Die Kriegsgefahr steigt, wenn es Unsicherheiten über Grenzen gibt. Der Schutz eigener Minderheiten im Nachbarland, die angezweifelte Legitimität der Grenzziehung, historisierende Mythen, aber auch ökonomische Begehrlichkeiten können dazu führen, das Machthaber einen Krieg vom Zaun brechen, so der Historiker Richard Overy in „Warum Krieg?“ Gegenseitiges Wettrüsten werde dann gefährlich, wenn sich dieses mit Kriegspropaganda und der Abwertung des „Feindes“ vermengt. Putins Krieg gegen die Ukraine passt in das erste Schema, die weltpolitische Aufrüstung wohl in das zweite.
Die Ukraine hat das Recht, sich gegen Putins Krieg zu verteidigen und braucht hierfür die entsprechenden Verteidigungswaffen. Ob Europa nun massiv gegen Putin aufrüsten müsse, weil dieser auch uns bedrohe, ist deutlich weniger sicher. Doch genau dies geschieht jetzt mit Befürwortern weit in jene Kreise hinein, die früher für Entspannung standen. Der neue SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil verkündete zur Bestärkung der deutschen Aufrüstungspläne, dass militärische Stärke und Diplomatie zusammengehörten: „Militärische Stärke auf der einen Seite und diplomatische Bemühungen auf der anderen Seite sind keine Gegensätze, sondern das sind zwei Seiten einer Medaille.“ Damit bediente er eine Diskussionsfigur, die seit dem Krieg Putins gegen die Ukraine Oberhand gewonnen hat: „Frieden durch Stärke“. Die EU-Mitgliedstaaten wollen 800 Mrd. Euro für militärische Aufrüstung ausgeben, das NATO-Ziel wurde beim Gipfel zuletzt für die europäischen Partnerländer mit fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts festgelegt – nur wenige wehrten sich dagegen wie Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez. Anders als alle anderen wird sich Spanien nicht dazu verpflichten, den Rüstungshaushalt auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, wie es US-Präsident Donald Trump fordert. Es werden 2,1 Prozent sein – und dabei wird es vorerst auch bleiben, zitiert ihn die taz. Trump hat sein Land selbst auch vom 5-Prozentziel ausgenommen, auch oder weil die USA bereits jetzt die weltweit größten Militärausgaben tätigen. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI waren es 2024 997 Milliarden US-Dollar der gut 2,7 Billionen US-Dollar weltweit. Seit nunmehr zehn Jahren steigen die Militärausgaben international stetig an. Doch noch nie sind sie seit dem Ende des Kalten Krieges binnen eines Jahres so stark gewachsen. Mehr als 100 Länder gaben mehr fürs Militär aus als im Vorjahr, wie aus dem SIPRI-Bericht 2025 hervorgeht.
Erste Proteste gegen die Aufrüstung Europas – Manifest der SPD-Friedenskreise
Doch es regt sich auch Widerstand – nicht nur in Friedensgruppen sowie aus Konfliktforschungsinstituten. Auch namhafte SPD-Mitglieder haben ein Manifest der SPD-Friedenskreise gestartet mit dem Ziel, der Aufrüstungsspirale entgegenzuwirken: „Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen. Stattdessen müssen wir wieder an einer Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit arbeiten“, heißt es darin. Dem ist eine präzise Analyse der neuen geopolitischen Veränderungen vorangestellt.
80 Jahre nach Ende der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Hitler-Faschismus sei der Frieden auch in Europa wieder bedroht. Neue Formen von Gewalt und Verletzung der Humanität werden benannt: Der russische Krieg gegen die Ukraine, aber auch die fundamentale Verletzung der Menschenrechte im Gaza-Streifen. Die soziale Spaltung der Welt werde tiefer, in den Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften. Die vom Menschen gemachte Krise des Erd- und Klimasystems, die Zerstörung der Ernährungsgrundlagen und neue Formen von Kolonialismus um Rohstoffe bedrohten den Frieden und die Sicherheit der Menschen. Nicht zuletzt würden Nationalisten Unsicherheiten, Konflikte und Kriege für ihre schäbigen Interessen zu nutzen versuchen.
Rückkehr zum Ansatz der gemeinsamen Sicherheit
Von einer Rückkehr zu einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa seien wir weit entfernt. Im Gegenteil: „In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden.“ Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg werde beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen. Weiter heißt es: „Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern.“
Vertrauensbildende Maßnahmen anstatt ein neuer Rüstungswettlauf
Vielen scheine gemeinsame Sicherheit heute illusorisch, so das Manifest. Das sei jedoch ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gäbe. Dieser Weg werde nicht einfach sein. Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen brauche es deshalb zunächst kleine Schritte: die Begrenzung weiterer Eskalation, den Schutz humanitärer Mindeststandards, erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte. Erst wenn solche Grundlagen geschaffen sind, könne Vertrauen wachsen – und damit der Weg frei werden für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur. Auch der öffentliche sicherheitspolitische Diskurs müsse dazu beitragen. Militärische Verteidigung wird nicht abgelehnt: „Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas sind notwendig. Diese Verteidigungsfähigkeit muss aber in eine Strategie der Deeskalation und schrittweisen Vertrauensbildung eingebettet sein, – nicht in einen neuen Rüstungswettlauf.“
Gemeinsame Sicherheit nach Putins Krieg geen die Ukraine undenkbar?
Es gab auch Einwände gegen das Manifest, die zu bedenken sind . Stefan Hebel von der Frankfurter Rundschau fasste diese wie folgt zusammen: „Allerdings: Die Autorinnen und Autoren des Manifests haben es der Gegenseite auch leicht gemacht. Tatsächlich wird der völkerrechtswidrige Charakter des russischen Angriffs zu beiläufig erwähnt, um den (unberechtigten) Vorwurf der Relativierung von vornherein zu entkräften. Tatsächlich geht das Papier nicht darauf ein, dass Putin im Moment offensichtlich nicht zu substanziellen Verhandlungen bereit ist. Tatsächlich macht es nicht deutlich, dass das Festhalten an einer künftigen Friedensordnung kein Patentrezept für heute, sehr wohl aber eine Zukunftsperspektive bieten kann, die bei der Orientierung im Umgang mit der Gegenwart hilft. Tatsächlich erklärt es nicht, wie die mit Recht geforderte diplomatische Initiative „unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Globalen Südens“ aussehen könnte. Zusammengefasst: Das Papier übt sich keineswegs in „Realitätsverweigerung“. Aber die Lücken, die es lässt, öffnen Räume für Unterstellungen dieser Art.“ [Danke an Martin Auer für diesen Hinweis]
Über 17.000 Menschen haben die am 11. Juni 2025 gestartete und bis Ende des Jahres laufende Petition nach einigen Wochen unterschrieben – weitere werden wohl noch dazu kommen. Ein Ziel des Aufrufs ist es, die Diskussion zu führen – so gibt es auf der Webesite eine Rubrik mit Pro- und Contra-Stimmen. Doch noch sind die Stimmen gegen die neue Aufrüstungsspirale rar. Der Großteil der politischen Eliten in der EU plädiert für die Strategie des „Friedens durch Stärke“ und die Medien transportieren und multiplizieren diese. Den Bürgerinnen und Bürgern wird suggeriert, dass wir nur so unsere Sicherheit erhalten können. Es kursieren Gerüchte über Geheimdienstrecherchen, dass Putin auch Polen oder gar Deutschland angreifen werde. Vom NATO-Generalsekretär Mark Rutte bis zum ehemaligen Grünen Außenminister Joschka Fischer wird die Erzählung verbreitet, Putin wolle Deutschland an den Kragen bzw. zumindest die NATO herausfordern, etwa durch den Einmarsch in baltische Staaten, um dort die russischen Minderheiten zu „schützen“, wie Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München im Zukunftsszenario „Wenn Russland gewinnt“ skizziert. Joschka Fischer in einem Interview mit Gundrun Doringer in den Salzburger Nachrichten: „Es geht nicht darum, wieder in Rchtung Militarisierung zu gehen. Aber wir können nicht nicht reagieren in einer Welt, die sich neu strukturiert: weg von einer außenpolitischen Realität, die auf Werten und und auf verläßlichen Grundlagen beruht, hin zu einer Außenpolitik, die nur auf Macht gründet und Krieg nicht ausschließt.“
Bedrohungsbilder können helfen, aber auch täuschen
Zukunftsprognosen sind immer schwierig – Gewissheit gibt es nicht. Bedrohungsbilder können helfen, sich gegen Bedrohungen zu wappnen, damit sie nicht eintreten. Sie können aber auch zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Europa ist im Dilemma. Die Politik von US-Präsident Donald Trump ist fragil und unberechenbar. Ob die in Europa stationierten US-Truppen jemals unsere Sicherheit garantiert haben, ist ungewiss, entspricht aber dem Mainstream der öffentlichen Meinung [Vgl. dazu meinen Beitrag „Sicherheit oder Scheinsicherheit?„]. Ungewiss ist auch, ob die nun geplante massive weitere Hochrüstung Europas zu mehr Sicherheit führt, oder ob diese nicht vielmehr den Konfrontationskurs verschärft. Gefährlich ist es jedoch, Sicherheit allein den Militärs zu überlassen. Wir brauchen wieder Brücken zu Russland – auf vielen Ebenen: im Bereich der Kultur, der Wissenschaften, der Zivilgesellschaft und auch auf der Ebene der Politik und Diplomatie.
Von Intelektuellen hört man nicht viel gegen den Militarisierungskurs – das Schweigen entspringt Desinteresse, Feigheit oder der Überzeugung, dass Putin nur mit militärischer Stärke beizukommen sei. Eine der wenigen lauten kritischen Stimmen ist der Philosoph Richard David Precht, dem auch rasch Putin-Nähe unterstellt wird. Sein Interview mit Harald Welzer und Peter Unfried für taz Futur Zwei ist überschrieben mit der Schlagzeile: „„Ich habe mich noch nie vor Russen gefürchtet.“ Precht meint darin pointiert, dass wir uns vielmehr vor dem Klimatod fürchten sollten. Das führt zu den ökologischen Folgen der Neo-Aufrüstungswelle.
Offene Dialogkanäle und Windows of Opportunity suchen
Der Konfliktforscher Friedrich Glasl [1] spricht von „Windows of Opportunity“, Gelegenheiten, die trotz verfahrener Situation die Chance auf die Rückkehr zum Dialog eröffnen. Obwohl es den Beteiligten im Verlauf eines Krieges oft durchaus klar sei, dass es bei der Fortsetzung von Kampfhandlungen zuletzt nur noch Verlierer geben kann, werde trotzdem die Parole ausgegeben, der Krieg müsse bis zu einem eindeutigen militärischen Sieg ausgetragen werden. Hin und wieder ergebe sich dennoch für kurze Zeit eine Gelegenheit, dass die Kriegführenden Interesse haben könnten, sich miteinander über eine konkrete Frage zu verständigen, dies aber nicht mitteilen, um nicht den Eindruck zu wecken, dass sie aus Schwäche einlenken, so Glasl: „Mit Windows of Opportunity“ möchte ich andeuten, dass ein Fenster vielleicht nur einen Spalt breit offen ist, aber durch geschicktes und ehrliches Vorgehen weiter geöffnet werden kann – bevor der Kriegssturm dieses Fenster wieder ganz zuschlägt.“ Im Krieg in der Ukraine hätten sich seit dem 24. Februar 2022 immer wieder Windows of Opportunity ergäben, die leider nicht bzw. nicht systematisch richtig genutzt wurden. Glasl führt eine Vielzahl davon an. Andere bezweifeln die Verhandlungs- und Dialogbereitschaft von Putin, etwa der Leiter der Diplomatischen Akademie in Wien, Emil Brix. Er ist ein Anhänger des Prinzips „Frieden durch Stärke“ (geworden) und fordert sogar einen Beitritt Österreichs zur NATO, zuletzt in einem Interview mit dem ORF.
Vom Sicherheitsdilemma und der Aufrüstungsspirale
In der Konfliktforschung wird vom Sicherheitsdilemma durch Aufrüstung gesprochen. Will man Sicherheit mit militärischen Mitteln erreichen, steigt zugleich die Unsicherheit, weil die Gegenseite ebenfalls aufrüstet. Der Friedensforscher Thomas Roithner: „Voraussetzung des Sicherheitsdilemmas ist ein Verständnis von Sicherheit, sich nicht von schwerwiegenden Gefahren bedroht zu fühlen und sich geschützt zu sehen. Das Gefühl der Bedrohung und eine objektivierbar festzustellende Bedrohung müssen dabei nicht zwingend deckungsgleich sein.“[2] Mit Dieter Senghaas spricht Roithner von einem „Aktions-Reaktions-Schema“, das in einen Rüstungswettlauf führt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, in den Sicherheitsdebatten realistische Bedrohungsanalysen zu erstellen, den verengten Sicherheitsbegriff wieder zu erweitern, Diplomatie und Krisenprävention zu stärken und die nur gemeinsam zu bewältigenden Herausforderungen wie die Klimaerhitzung, den rapide steigenden Artenverlust oder den nach wie vor grassierenden Hunger trotz genügend Lebensmittel auf der Welt anzugehen. Ernst Ulrich von Weizsäcker hatte früh „Erdpolitik“ gefordert, zurück ist jedoch die „Geopolitik“ in ihrer die Welt zerrüttenden Konfrontations- und Eskalationsdynamik.
Mag. Hans Holzinger ist Nachhaltigkeitsexperte, Mitglied von Scientists for Future und Autor mehrerer Sachbücher. Zuletzt erschienen ist „Wirtschaftswende“ beim Münchner oekom-Verlag. Auf seinem Blog finden sich zahlreiche Artikel, auch zu Sicherheitsfragen und Geopolitik. www.hans-holzinger.org
[1] Wie kann Kriegslogik durch Friedenslogik überwunden werden? Erschienen in der Zeitschrift Familiendynamik, Klett-Kotta. Vgl. auch https://www.friedensbuero.at/veranstaltungen/proaktive-neutralitaetspolitik-in-geopolitisch-unsicheren-zeiten/
[2] Roithner Thomas: Sicherheitsdilemma trifft militärisch-industriellen Komplex. Praxis und Theorie aktueller Rüstungsdynamik, in: Spinnrad. Forum für aktive Gewaltfreiheit, Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes – Österreichischer Zweig, Nr. 2/2025, Wien 2025, Seite 3 – 5, Zitat S. 4