Fabian Scheidler: Friedenstüchtig. Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen. Wien: Promedia, 2025. 224 Seiten. mehr

„Europa bewegt sich immer tiefer in eine selbstzerstörerische Kriegslogik hinein. Hart erkämpfte soziale und demokratische Errungenschaften drohen einer schrankenlosen Militarisierung und einem permanenten Ausnahmezustand geopfert zu werden.“ Damit wird in der Verlagsankündigung die zentrale Aussage des Historikers und Journalisten Fabian Scheidler in seinem Buch „Friedenstüchtig“ umrissen [1]. Der Untertitel des Buches „Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen“ klingt in der Tat provokant, lautet die mehrheitlich geteilte Gefühlslage ja, dass wir von immer mehr Feinden umgeben seien. An vier Themen legt Scheidler seine These dar – dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“, der Reaktion des Westens auf den Krieg Putins gegen die Ukraine, der Zerstörung des Gaza als Antwort auf das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten sowie der Unterbindung einer offenen Debatte darüber jenseits der Anti-Semitismus-Keule sowie schließlich an der Pandemiepolitik, die als „Krieg gegen das Virus“ dramatisiert worden sei.

Der Autor leugnet weder die Gefahren des islamischen Terrorismus noch jenen der Hamas, er benennt auch klar Putin als Aggressor sowie – anders als die Coronaleugner – Pandemien als Gefahr; er kritisiert aber die in seinen Augen übertriebene Reaktion der Politik in Europa bzw. der Bundesrepublik auf diese Bedrohungen sowie die Unterbindung einer offenen Diskussion darüber, die in einer Demokratie anstehen würde. Scheidler lädt also dazu ein, über die Verhältnismäßigkeit der Antworten sowie über Fehlreaktionen zu diskutieren. Als Historiker rekonstruiert er detailliert den Hergang der Krisen bzw. Kriege – und er zitiert kritische Stimmen, die im ausgerufenen „Ausnahmezustand“ nicht (mehr) gehört wurden.

Auch wenn jede der Krisen ihre eigene Geschichte hat, so folgert Scheidler eine allen gemeinsame Konsequenz: die politische Fehl- bzw. Überreaktion habe die Probleme nicht beseitigt, sondern verschärft und das Leid potenziert. Scheidler beschreibt Muster, die er in allen Fällen konstatiert: Eskalation und Lagerbildung, Mythlogisierung des Krieges, Schwarz-Weiß-Denken bei einer Überhöhung der „westlichen Werte“, schließlich Aufbau eines Opferkults sowie Ausblendung der Vergangenheit der Konflikte. All das habe zur Verschärfung der Probleme und zu realitätsfernen Gefahrenanalysen geführt:

„Die Vorstellung, das eine Handvoll Attentäter und ihr Netzwerk in den Höhlen des Hindukusch eine existenzelle Bedrohung für die militärisch mit Abstand mächtigste Nation in der Geschichte der Menschheit sein sollte, war von vorneherein absurd. Auch die Idee, dass die Hamas das hochgerüstete Israel vernichten könnte oder Wladimir Putin mit einer Armee, die seit Jahren in der Ukraine nur mühsam vorankommt, die NATO überrennen und Warschau, Berlin und Paris einnehmen könnte, ist ausgesprochen realitätsfern.“ (S. 21)

Scheidler kritisiert – es wurde bereits angedeutet – auch die Ausschaltung einer kritischen öffentlichen Debatte:

„Der öffentliche Raum ist zu einem Flickenteppich aus Tabuzonen geworden. Ob Corona, Ukraine oder Gaza: Wo man hinschaut, stößt man auf vermintes Gelände: Die Angst, sich in diesem Terrain zu bewegen, hat mittlerweile zu einem weitgehenden geistigen Stillstand in vielen Ländern der westlichen Welt geführt. Wo über Konflikte und ihre Genese nicht mehr offen gesprochen werden kann, hört das Denken selbst auf.“(S. 21)

Dass jeder Konflikt, jeder Krieg eine Vorgeschichte hat, gilt als Binsenweisheit, wird aber in den öffentlichen Debatten dennoch weitgehend ausgeblendet. Man möchte nicht der Gefahr erliegen, Verständnis für die Täter aufzubringen. Doch Scheidler stellt sich dieser Herausforderung, ohne irgendetwas zu verharmlosen. Er zeigt nicht nur auf, welche alternativen Reaktionswege es gegeben hätte, sondern auch, worin die Ursachen der beschriebenen Konflikte liegen, wann der „Vorkrieg“ (so ein Begriff der Schriftstellerin Christa Wolf) – begonnen hat. Neben der Fähigkeit, „die Welt durch die Augen der anderen zu sehen“ (S.173) brauche es auch eine realistische Lageeinschätzung. Scheidler kritisiert etwa das Festhalten der EU-Spitzen an einem Siegfrieden für die Ukraine, der von Militärs selbst als aussichtslos beurteilt werde, aber viele weitere Tote und Verwundete fordere (mehr siehe meinen Blogbeitrag dazu). Er spricht einen strittigen Punkt an, wenn er auf die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik verweist:

„Gesinnungsethik begnügt sich damit, abstrakte Prinzipien zu verteidigen, egal was die Folgen sind. Verantwortungsethik denkt vom gewünschten Ergebnis her. In unserem Fall hieße das zum Beispiel: Welche Schritte muss ich in der realen, oft unschönen Welt unternehmen, um möglichst viele Menschenleben zu retten, einen Atomkrieg zu verhindern und der Ukraine eine Zukunft zu ermöglichen?“ (S.61)

Im Ausblick des informativen, mit über 200 Quellenangaben reichen Buches plädiert der Autor für die Rückkehr zu einer kooperativen Sicherheitsarchitektur, „die die Sicherheitsinteressen aller Akteure berücksichtigt. Dafür müssen die Vorgeschichten dieser Kriege, einschließlich der problematischen Rolle westlicher Regierungen, tabufrei und selbstkritisch aufgearbeitet werden.“ (S. 172)

Fazit: Verantwortungs- statt Gesinnungsethikkomplexe Konfliktstrukturen anerkennen

Es ist leicht, einen Aggressor zu identifizieren und diesen zu verurteilen. Viel schwieriger ist es, die angemessenen Antworten zu finden und diese abzuwägen. Das unterscheidet Verantwortungs- von Gesinnungsethik. Die Folgen dieser Antworten einschließlich der erneuten Gegenreaktionen zu antizipieren, darin liegt das Wesen von Konfliktforschung und Konfliktbearbeitung. Dabei gilt es, die Ursachen von Konflikten sowie die Motive von Aggressoren zu verstehen, ohne dafür Verständnis aufzubringen. Schwarz-Weiß-Denken ist abzulehnen, es sind immer wieder Fenster der Diplomatie zu suchen, worauf etwa der Konfliktforscher Friedrich Glasl verweist [1]. Das Ziel muss sein, Leid und Zerstörung zu minimieren, nicht auf der Seite der Guten oder Richtigen zu stehen.

Fabian Scheidler gelingt es als Historiker, die Fallstricke vereinfachender Erzählungen und daraus folgender Fehlmaßnahmen zeitnah darzustellen. Er verweist dabei auf die Gefahren, die durch eine Politik der Simplifizierung oder bewussten Verführung für die Demokratien selbst bestehen, die zu retten vorgegeben werden. So hat der Krieg gegen den Terror ebenso wie die Reaktion auf Putins Krieg gegen die Ukraine zu einem erneuten Militarisierungsschub einer bereits hochgerüsteten Welt geführt. Das Nicht-Benennen der unvorstellbaren Zerstörungen in Gaza durch die israelische Armee hat den Antisemitismus nicht bekämpft, sondern bestärkt, die – wie wir im Nachinein wissen – z. T. überzogenen Coronamaßnahmen und das Totschweigen von Kritik daran, weitere Menschen in die Hände der rechtsextremen Vereinfacher und Populisten getrieben.

Fabian Scheidler füllt mit seinen Analysen und historischen Rekonstruktionen hier eine Lücke, die wir bedenken sollen. Eine kritissche Bemerkung sei zum Schluss erlaubt: Es ist legitim, die Versäumnisses der westlichen Demokratien aufzuzeigen. Wahrscheinlich würden die Ausführungen aber noch mehr Gehör finden, wenn stärker auch die Probleme und Versäumnisse der jeweils anderen Seite benannt würden: etwa der brutale Terror durch die Hamas, der den Palästinenser:innen einen Bärendienst erwiesen hat, oder die Kriegshetze durch die politische Führung in Russland einschließlich des Umstandes, dass es an Putin läge, den Krieg jederzeit zu beenden. Aber – das erinnert nochmals an die Stärke des Buches: Konflikte sind komplex und erfordern komplexe Antworten. Gewagt erscheint die These Scheidlers, dass Politker und Politikerinnen der EU-Staaten den Ausnahmezustand bräuchten, um an der Macht zu bleiben und von anderen Versäumnissen abzulenken. Nachvollziehbarer ist das Festhalten an einem Siegfrieden für die Ukraine, denn alls andere wäre ein Eingeständnis, dass die vielen Toten und die Zerstörung umsonst gewesen seien.

Resümee: Wir sind gut beraten, Scheidlers Analysen und Schlußfolgerungen ernst zu nehmen, sie durchaus mit Sichtweisen anderer zu vergleichen, aber sie nicht abzutun, sondern von dem Schwarz-Weiß-Denken loszukommen. Als Weltgemeinschaft haben wir andere Aufgaben, etwa die Eindämmung der Klimakrise, als uns in weitere militärische und geopolitische Disaster hineinzumanövrieren [2].

[1] Friedrich Glasl: Wie kann Kriegslogik durch Friedenslogik überwunden werden? Erschienen in der Zeitschrift Familiendynamik, Klett-Kotta. Vgl. auch den Vortrag von Friedrich Glasl im Friedensbüro Salzburg zu proaktiver Neutralitätspolitik.

[2] Vgl. Vortrag von Verena Winiwarter zu „Militär, Umwelt, Klima“ am 31.10.2025 in Salzburg.