Eine Abwägung von Hans Holzinger

Wie viele Menschenleben ist die Verteidigung eines Territoriums wert? Dazu gibt es zwei gegenteilige Positionen und wohl einige, die dazwischen liegen. So viele als notwendig, um die territorialen Grenzen zu halten bzw. das verlorene Territorium wieder zurückzugewinnen, sagen die einen.  Keines – so die anderen, die eine radikal-pazifistische Position vertreten. Menschen gehen immer vor Territorien, lautet ihre Positionierung. Dazwischen gibt es Abstufungen. Etwa: Menschenleben sind es nur wert, wenn damit ein größeres Leid, etwa ein Terrorregime, abgewendet werden kann, nicht jedoch, wenn „nur“ eine Verschiebung von Grenzen in Kauf zu nehmen ist.

Eine wichtige Rolle spielt wohl auch, wem man die Frage stellt. Jene, die die Befehle zum Verteidigen bzw. Rückholen des verlorenen Territoriums geben, aber nicht selbst ins Schlachtfeld ziehen müssen, werden eher geneigt sein, den unbedingten Verteidigungswillen – „Kampf bis zum letzten Mann“ – zu beschwören. Jene, die die Befehle ausführen, also ins Schlachtfeld müssen, und jene, die die Folgen zu spüren bekommen, die Menschen in den umkämpften Gebieten, könnten weniger euphorisch sein, was den Patriotismus mit der Waffe in der Hand angeht. Letztere werden aber kaum gefragt – zumindest nicht in öffentlichen Debatten.

Doch es gibt einen nationalen Selbstverteidigungswillen eines ganzen Volkes, werden Sie vielleicht einwenden. Die Ukraine beweise dies aktuell. Sicher bin ich mir da nicht, was Propaganda und was tatsächlicher Kampf- und Verteidigungswille ist.

In der Charta der Vereinten Nationen wird Gewalt als Mittel internationaler Beziehungen abgeschworen. Die Geißel des Krieges muss für allemal überwunden werden, sagte man nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs, in dem 50 Millionen Menschen zu Tode gekommen sind. Schon der Völkerbund, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, hatte dies zum Ziel – er war gescheitert, wie wir wissen. Gewaltverzicht ist seit 1945 also ein zentrales Gebot in den internationalen Beziehungen. Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um an diesen Anspruch immer wieder zu erinnern und diesen umzusetzen zu helfen. Das ist, wie wir auch wissen, nicht immer gelungen, aber die Anzahl der kriegerischen Konflikte ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen, wie Statistiken der Konfliktforschung zeigen.

Die Unversehrtheit nationaler Grenzen in Verbindung mit dem Gewaltverbot macht Sinn, weil sie der Anarchie bzw. dem Recht des Stärkeren entgegenwirkt. Doch die Verschiebung von Grenzen an sich soll kein Tabu sein. Es gab in der jüngeren Geschichte gute Beispiele, wie dies ohne Gewalt abging: der Zerfall der Sowjetunion ohne Einschreiten der Armee, was dem weitsichtigen Michail Gorbatschow zu verdanken ist, oder das Auseinandergehen von Tschechen und Slowaken. Es gab freilich auch das andere Beispiel – den blutigen Zerfall Jugoslawiens.

Was wäre möglich? Die Verschiebung territorialer Grenzen ohne Einschreiten der Armee des tangierten Landes kann durch Volksabstimmung erfolgen. Wenn sich Unabhängigkeitsbewegungen bilden, können die Menschen in den betroffenen Regionen gefragt werden, ob sie im alten Staat(enverbund) bleiben oder unabhängig werden wollen. Beispiele aus Europa wären Schottland oder das Baskenland. In der Praxis ist es nicht so einfach – so wurde ein erneutes Referendum in Schottland vom britischen Verfassungsgerichtshof untersagt, die abtrünnigen politischen Führer der Basken wurden sogar vor Gericht gestellt. Und würde man in Südtirol darüber abstimmen lassen, ob das Gebiet wieder zurück zu Österreich gehen soll, bekäme man wahrscheinlich eine Mehrheit. Konflikte wären aber vorprogrammiert – aus historischen Gründen  –, aber undenkbar soll es nicht sein. Wenn die Mehrheit der Vorarlberger und Vorarlbergerinnen lieber zur Schweiz gehen möchte und die Schweiz das auch gut fände, wäre das kein Kriegsgrund. Das österreichische Bundesheer würde wohl nicht aufmarschieren, um die Volksabstimmung zu verhindern. Aber vorstellbar ist ein solches Szenario schwer. Leichter umsetzbar sind Autonomieregelungen, mehr Selbstbestimmungsrechte, mehr Subsidiarität.

Klug ist es wohl, zwischen Staat und Nation zu unterscheiden. Nation bezieht sich auf ethnische bzw. kulturelle Kategorien – Sprache, Bräuche, Tradition. Der Staat ist eine Verwaltungs- und Ordnungseinheit – er grenzt ein Territorium ab, auf dem die Gesetze dieses Staates gelten. Das Nationale verschwindet nicht, verliert aber aufgrund von Migration und Plurikulturalität an Bedeutung. Ein Staat ist auch möglich mit Menschen unterschiedlicher Muttersprache, wie in der Schweiz. Mehrsprachigkeit wird auch aufgrund erweiterter Bildungsmöglichkeiten immer mehr zur Normalität – Englisch setzt sich als „Weltsprache“ immer mehr durch. Dass Nation und Staat zusehends vermischt werden, zeigen Sportwettbewerbe wie die Fußball-WM. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe treten für die Mannschaft einer Nation an – und die Fans ergießen sich in Patriotismus. Besser allenfalls, als in den Krieg ziehen, würde ich meinen.

Viele der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die Eindämmung der Klimakrise und anderer Umweltkrisen, die Überwindung des Hungers, die Zähmung des Kapitalismus durch Umverteilung sowie der volatilen Finanzmärkte durch Regulatorien – all das erfordert internationale Zusammenarbeit. Begriffe wie „planetares Bewusstsein“ oder „Heimatland Erde“ versuchen dies zu verdeutlichen. Das heißt nicht, dass alle nationalen Rivalitäten überwunden sind, insbesondere in Wirtschaftsfragen, verstärkt auch wieder in Migrationsfragen, werden „nationale Interessen“ hochgehalten. Aber die Europäische Union ist ein gelungener Versuch, auch wirtschaftlichen Ausgleich zwischen unterschiedlich starken Volkswirtschaften anzugehen, mit all den damit verbundenen Konflikten. Geopolitisch brisanter sind Rivalitäten zwischen Machtblöcken bzw. Verschiebungen hinsichtlich Hegemonie. Die Kriegsursachenforschung zeigt, dass in der Geschichte solche Machtverschiebungen in den seltensten Fällen unblutig verlaufen sind. Die aktuellen Aufrüstungsspiralen insbesondere im pazifischen Raum, aber auch in Europa sind kein gutes Zeichen. Aber man darf klüger werden und die globalen Interdependenzen legen nahe, klüger zu werden.

Der österreichische Friedensforscher Thomas Roithner wird nicht müde, immer wieder auf die Bedeutung ziviler Kooperationen und Konfliktbearbeitungen hinzuweisen. Sein Kollege Werner Wintersteiner ruft die Möglichkeiten zivilen, gewaltfreien Dialogs und auch Widerstands in Erinnerung. Wie liegt nun Sache in der Ukraine und bezüglich des Krieges gegen die Ukraine? Die Lage ist komplex und nicht so eindeutig, wie sie in den öffentlichen Debatten vorgetragen wird. Keine Frage: Der Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, den Wladimir Putin am 26. Februar dieses Jahres gegeben hat, war völkerrechtswidrig und ein Bruch mit den Standards gewaltfreier Lösung von Konflikten. Doch der Machtwechsel 2014 in Kiew war nicht durch Wahlen, sondern durch Proteste auf der Straße zustande gekommen, also nicht auf Basis üblicher demokratischer Standards. Die Besetzung der Krim durch russische Einheiten kurz darauf war eine Folge davon. Die Vereinbarungen über den Autonomiestatus der Ostregionen in der Ukraine wurden gebrochen. Die Konflikte schwelten all die Jahre. Das sukzessive Vordringen der NATO an die Grenzen Russlands haben das Vertrauen auch nicht gestärkt – auch wenn es das Recht jeder Bevölkerung ist, diesen Wunsch zu äußern. Noam Chomsky bringt den Vergleich mit Kuba. Wie würde die US-Führung reagieren, wenn dort sagen wir chinesische Raketen stationiert würden. Und es gab großen Protest der USA, als sich eine der Pazifikinseln China zuwandte.

All das ist keine Legitimation für Putins Krieg, wie jenen meist unterstellt wird, die kritische Fragen stellen. Putin hat mit diesem Krieg das Leid und den Tod zahlreicher Menschen einkalkuliert – Krieg ist immer die nackteste Form der Herrschaft über Menschen, weil Menschen per Gesetzt dem Tod ausgesetzt werden. Historiker wie Tim Marshall („Die Macht der Geografie im 21. Jahrhundert“) oder Yuval Harari („21. Lektionen für das 21. Jahrhundert“) haben in ihren Büchern, die vor der Invasion der russischen Armee im Februar dieses Jahres erschienen sind, vor einem solchen möglichen Schritt. Und die Geheimdienste haben es wohl auch erwartet. Dies wiederum ist keine Legitimation, aber man hätte wahrscheinlich klüger sein können in all den Jahren davor.

Was tun? Die Diplomatie ist gescheitert, Versäumnisse sind zu betrauern. Das Thema großzügiger Autonomieregelungen für die umkämpften ostukrainischen  Gebiete ist derzeit vom Tisch. Selenski hat die Devise ausgegeben, wir werden alle Territorien zurückholen – „Kampf bis zum letzten Mann“, Putins Devise lautet, wir werden die annektierten Gebiete in der russischen Föderation halten – „Kampf bis zum letzten Mann“. Kriegsanalysten sind der Überzeugung, dass es Verhandlungen nur geben wird, wenn eine Seite derart geschwächt ist, dass der Widerstand in der eigenen Bevölkerung zu groß wird. Das lässt aber befürchten, dass noch mehr Blut fließen wird – man hört ja kaum mehr von den täglich sterbenden Soldaten auf beiden Seiten. Manche setzen darauf, dass Putin stürzen wird – und auf anderen Ebenen bereits Verhandlungen über ein Post-Kriegs-Szenario laufen. So etwa der Innsbrucker Politikwissenschaftler Wolfgang Dietrich. Sein Universitätskollege Gerhard Mangott befürchtet, dass der Krieg noch länger dauern wird, die westlichen Sanktionen gegen Russland zwar nicht das Einlenken Putins erreichen werden, möglicherweise aber die russische Rüstungsindustrie schwächen, weil der Zugang zu High-Tech abgeschnitten ist. In Verbindung mit der massiven militärischen Unterstützung der Ukraine durch den Westen könnte dies zur Verkürzung des Krieges beitragen.

Aus Sicht der zivilen Konfliktbearbeitung darf der Anspruch auf Verhandlungen, auf Diplomatie, nie aufgegeben werden. Kompromisse werden dabei eine Rolle spielen. Wie es aussieht, wird es viele Verlierer auf beiden Seiten geben. Vielleicht wäre es gut, einmal die in den Krieg geschickten Soldaten sowie die notleidenden Menschen auf beiden Seiten zu fragen, welchen Ausweg sie präfieren würden. Geschichtsschreibung von unten sozusagen. Dass Lukaschenko zögert, auf der Seite Putins in den Krieg einzugreifen, hängt offensichtlich mit dem befürchteten Widerstand der eigenen Bevölkerung sowie des Militärs zusammen. So muss es sein. Denn geopolitisch verheißt der Krieg in der Ukraine nichts Gutes – neben dem unzähligen Leid, das er bereits angerichtet hat. Und einen Gewinner gibt es auch bereits – die Rüstungskonzerne: „Weltweit weisen die Börsen in diesem Jahr Verluste aus, doch die Waffenindustrie boomt. Dies zeigt sich auch an den Aktienkursen von Rheinmetall, Raytheon und Lockheed Martin“, so die Neue Züricher Zeitung in ihrer Onlineausgabe vom 21.12.2022.