(C) Hans Holzinger
Transformationsforschung kommt ursprünglich aus der Politikwissenschaft; untersucht wird der Übergang von Diktaturen in Demokratien. Im Nachhaltigkeitskontext wird der Übergang von nichtnachhaltigen Verschwendungsgesellschaften zu nachhaltigen Verantwortungsgesellschaften analysiert. Transformationsforschung widmet sich den Barrieren und Gelingensfaktoren des erwünschten Wandels. Transformative Forschung wiederum unterstützt den Wandel in allen Wissenschaftsdisziplinen. Analog sprechen wir von Transformationsbildung, die sich den Bedingungen des Wandels widmet, und transformativer Bildung, die den Wandel in allen Gesellschaftsbereichen unterstützt (Schneidewind/Singer-Borowski 2014, Holzinger 2013, 2020a). Es geht also nicht nur darum, die Pfade des notwendigen Wandels zu beschreiben, sondern auch die Bedingungen zu seiner Umsetzung zu reflektieren. Dies ist wichtig, denn wir wissen genug darüber, was schiefläuft und auch darüber, wie es anders gehen könnte. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) darf sich daher nicht damit begnügen, Kompetenzen für einen nachhaltigen Lebensstil zu vermitteln, sondern muss sich auch den strategischen Fragen der gesellschaftlichen Umsteuerung widmen.
Im Folgenden werden einige Ansätze der Transformationsforschung sowie aus weiteren Disziplinen wie der Umweltpsychologie und der Klimakommunikation vorgestellt, die für Transformation für nachhaltige Entwicklung von Relevanz sein können.
Ansatz der sozialen Diffusion und Suffizienz: Der Postwachstumsforscher Niko Paech (2019a, b) geht davon aus, dass die Politik Veränderungen nur umsetzt, wenn dafür die Basis und Bereitschaft in der Bevölkerung gegeben sind. Dafür bedürfe es eines „hinreichenden Grades an vorheriger Selbsttransformation“. Pionier:innen ebnen den Weg für die Kohorte mit der nächsthöheren Übernahmeschwelle, den „early adopters“. Erst danach kann diese soziale Dynamik im besten Fall zur „kritischen Masse“ und zum Selbstläufer („take off“) werden. Eine besondere Rolle spielen dabei „opinion leaders“. Niko Paech ist zudem ein Vorreiter des Suffizienzansatzes, den er in „Befreiung vom Überfluss“ (Paech 2012) darlegt. Suffizienz bedeutet eine selbstgewählte Beschränkung des Konsums, um dafür mehr freie Zeit zu gewinnen und sich auf wesentliche Dinge konzentrieren zu können. Das Motto: „Frei ist nicht, wer möglichst viel hat, sondern möglichst wenig braucht.“ Vorausgesetzt, die Grundbedürfnisse sind befriedigt.[1]
Ansatz der Pionier:innen des Wandels: Von Vorreiter:innen geht auch dieser Ansatz aus. Der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU 2011) der Deutschen Bundesregierung hat ein Modell der Pionier:innen des Wandels entwickelt. Nischenakteur:innen experimentieren mit alternativem Verhalten im Kleinen und entwickeln neue Projekte, etwa im Biolandbau, durch Erzeuger-Verbraucher-Initiativen, Auto-Teilen, Autofreies Wohnen, Second-Hand- und Kost-Nix-Läden oder Energiegenossenschaften. Der Staat soll diese Nischenakteure durch Anreize, Förderungen und öffentliche Anerkennung unterstützen mit dem Ziel, dass diese das Nischendasein verlassen.[2] In Österreich wurde mit dem Erneuerbaren Ausbau-Gesetz in diesem Sinne die Bildung von Energiegemeinschaften ermöglicht.[3] Der Ökologe Michael Kopatz des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie schlägt in “Wirtschaft ist mehr” (2021) eine “Wirtschaftsförderung 4.0” vor, in der Kommunen solche Neuansätze fördern.
Ansatz neuer Narrative und Geschichten des Gelingens: Der Soziologe Harald Welzer plädiert seit vielen Jahren für „Geschichten des Gelingens“, für „Realutopien“ bzw. „Heterotopien“, die zur Nachahmung anregen. In seinen Büchern „Transformationsdesign, gemeinsam mit Sommer 2016) und „Alles könnte auch anders sein“ (2020) erläutert der Soziologe seinen Ansatz sowie das Zukunftsbild einer „reduktiven Moderne“, in der die Errungenschaften wie offenes Denken, soziale Sicherungssysteme sowie Demokratie weiterentwickelt, der Stoff- und Energiedurchsatz aber radikal verringert wird. In dem von Welzer initiierten Projekt „FuturZwei“ werden Positivgeschichten vorgestellt. Solche findet man auch auf der „Karte von Morgen“ oder dem „Salzburger Atlas für nachhaltige Entwicklung“.[4] Christopher Schrader von Klimafakten.de betont in seinem wertvollen Handbuch „Über Klima reden“ (2022), dass Faktenwissen wichtig sei. Er kritisiert aber die Katastrophen-Kommunikation. Es sei ein Aberglaube, dass wir mit immer noch mehr Informationen die Menschen zum Umsteuern anregen würden. Vielmehr bräuchten wir auch positive Geschichten. Vorträge sollen Anfangs durchaus kritische Fakten bringen, aber immer mit Alternativen enden. Statt „L“-Vorträgen gehe es um „U“-Vorträge. Auch die österreichische Umweltpsychologin Isabelle Uhl-Hädike (2021) plädiert für das Abgehen von der Katastrophenfixierung, viel stärker müssten neue Handlungsansätze aufgezeigt werden.
Ansatz der Schweigespirale: In seinem Handbuch „Über Klima sprechen“ (2022) erläutert Christopher Schrader auch das Prinzip der Schweigespirale. Wenn Menschen sich scheuen, in Diskussionsrunden kontroverse Ansichten zu äußern, wird die Dominanzmeinung immer lauter und stärker. Der Ansatz müsse daher sein, das Schweigen zu durchbrechen, sich Verbündete zu suchen und die Alternativmeinung zu stärken. Wir sind eben soziale Wesen und ahmen vieles von anderen nach. Dazu passt auch eine Untersuchung des in Laxenburg bei Wien beheimateten IIASA, die zeigt, wie stark Vorreiter:innen Gruppen beeinflussen. Als Beispiel wird das Bestellverhalten in einem Restaurant angeführt: Bestellt die erste Person ein vegetarisches Gericht, tun dies bedeutend mehr nach ihr, als wenn die erste Person ein Fleischgericht bestellt.[5]
Achtsamkeitsansatz – Active Hope: Lea Dohm und Mareike Schulze, Gründerinnen der „Psychologists for Future“[6], bringen in ihrem Buch „Klimagefühle“ (2022) das Bild des Eisbergs: Wir sehen nur die herausragende Spitze, die dem rationalen Wissen um die Klimakrise entspricht, verdrängen aber die damit verbundenen Emotionen wie Angst, Ärger und Wut, Traurigkeit, Schuld und Scham oder Neid. Es sei wichtig, Gefühle zuzulassen, sich der Angst, Ohnmacht, Wut und Traurigkeit zu stellen. Im gemeinsamen Engagement würden negative Gefühle in Mut und Wut transformiert, so die klimaengagierten Psychotherapeutinnen. Die beiden warnen auch vor einer „Parentifizierung“ der Kinder und Jugendlichen, wenn diesen die ganze Verantwortung aufgedrängt wird.[7] Das Engagement der Eltern entlaste auch die Kinder, die gerne zu Demos mitgenommen werden können, aber nicht mit eigenen negativen Gefühlen überschüttet werden dürfen (vgl. auch van Brunswijk 2022). Beim Engagement setzt auch der Ansatz der „Active Hope“ der Tiefenökologin Joana Macy an (zit. n. Schweinschwaller 2021). Es gehe darum, Rationalität und Emotionen zu verbinden, Protestaktionen in aktives Hoffen zu transformieren und regenerative Kulturen der Selbstsorge und Verbundenheit zu entwickeln. Der Soziologe Hartmut Rosa (2019) plädiert in diesem Sinne für das Wiedergewinnen von Resonanzerfahrungen durch Selbstsorge, Sorge um andere und die Sorge um die Mit- und Umwelt.
Akteursansatz mit Bremsern und Treibern: Der Akteursansatz ist ein Analyseinstrument aus den Politikwissenschaften. Beschrieben wird das Agieren der unterschiedlichen Akteur:innen in Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und deren Wechselwirkungen. Lobbying als Einflussnahme auf Entscheidungsträger:innen und Agenda-Setting als Einflussnahme auf die öffentliche Meinung spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Umweltwissenschaftlerin Cora Kristof (2020) hat daraus ein Transformationsmodell für die Nachhaltigkeitsforschung entwickelt. Beschrieben wird das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteur:innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie die Rolle von Treibern und Bremsern in diesem Akteursfeld im Kontext von Umwelt- und Klimathemen. Kristof plädiert dafür, seine Energien nicht mit den starken Bremsern zu vergeuden, sondern sich auf die potenziell Aufgeschlossenen zu konzentrieren. Hier setzt ein weiterer Ansatz an.
Ansatz der unterschiedlichen Gesellschaftsmilieus: Regelmäßig werden die Einstellungen der Menschen zu gesellschaftlichen Themen abgefragt und daraus unterschiedliche Milieus destilliert. Das deutsche Umweltbundesamt analysiert, welche dieser Milieus für Umweltthemen ansprechbar sind. Die „Kritisch-Kreativen“ seien post-materiell, weltoffen und tolerant, die „Jungen Idealistischen“ ebenfalls sensibel für ökologische Themen. Das Motto: „Nachhaltigkeit leben und die Welt zu einem besseren Ort machen“. Jede/r Dritte dieser Gruppen ernährt sich vegetarisch oder vegan. Zusammen machen diese beiden Milieus 18 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die „Etablierten“ („Auf das Erreichte stolz sein und es genießen“) sowie die „Jungen Pragmatischen“ („Flexibel sein und Chancen wahrnehmen“) seien vor allem mit technischen Lösungen ansprechbar. Sie machen zusammen 23 Prozent aus (zit. n. Adler 2021, 490ff). Laut einer Umfrage „Umweltbewusstsein in Deutschland“ aus dem Jahr 2017 (vor Corona!) stimmten 55 Prozent voll und 91 Prozent überwiegend der Aussage zu: „Wir müssen Wege finden, wie wir unabhängig von Wirtschaftswachstum gut leben können.“ Für mehr als zwei Drittel der Befragten soll Umweltschutz in Deutschland Vorrang haben, selbst wenn er Wirtschaftswachstum beeinträchtigt. „Beträchtliche Minderheiten“ von einem Fünftel bis einem Viertel der Bevölkerung, bei den 14- bis 22-Jährigen ein reichliches Drittel, seien aufgeschlossen für eine sozialökologische Transformation. Darunter sind Personen mit höheren Bildungsabschlüssen, Frauen sowie Beschäftigte in personennahen Dienstleistungen überrepräsentiert. Sie sollen als Erstes angesprochen und gewonnen werden, so der Politikwissenschaftler Frank Adler (2021, 487).
Ansatz neuer Theoriemodelle – Postwachstumsökonomie: Bestehende Theorien halten sich den Wissenschaften nur so lange, als sie von keinen besseren abgelöst werden. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es etwas anders aus. Etablierte Denkansätze und Modelle können sich auch behaupten, weil sie über mächtigere Befürworter:innen verfügen oder weil besondere Interessen dahinter stehen. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaftswissenschaften. Daher wird von jungen Studierenden an mehreren Universitäten eine Pluralisierung der gelehrten Ansätze im Sinne heterodoxer Wirtschaftswissenschaften gefordert (Peukert 2019). Denn es gibt nicht nur den neoliberalen und den keynesianischen Ansatz, die beide auf Wirtschaftswachstum setzen, sondern viele andere, etwa die feministische Ökonomie, die Postwachstumsökonomie oder die Donut-Ökonomie (Raworth 2018 zusammenfassend: Holzinger 2018). Der Verfasser beschäftigt sich seit längerem mit Postwachstumsansätzen und vermittelt diese in Vorträgen und Publikationen (Holzinger 2022). Wirtschaftswachstum hat in Österreich zur Vervierfachung des Konsumniveaus seit den 1950er-Jahren geführt und in der Tat Massenwohlstand ermöglicht. Doch: Ab einem bestimmten Einkommensniveau kommt es zur Entkopplung von Zufriedenheit. Mehr materieller Wohlstand macht nicht mehr zufriedener, erklärbar durch Phänomene wie die „Vergleichsfalle“, die „Statusfalle“ oder die „Anspruchsfalle“ (Binswanger 2008, 2019). Entscheidend sind die Lebenshaltungskosten für die Grundbedürfnisse Ernährung, Wohnen, Mobilität. Statt mehr Wachstum können wir eine faire Verteilung des Wirtschaftsprodukts fordern (Hickel 2018). Neue Begriffe wie „Schadschöpfung“ sowie neue Perspektiven wie „Verzichten können wir nur auf etwas, das uns im Grunde zusteht“ (beides Göpel 2020) helfen, unser Denken zu verändern.[8]
Agenda Setting & Lobbying durch Soziale Bewegungen: Soziale Bewegungen schaffen durch Aktionen im öffentlichen Raum, durch Demonstrationen, Manifeste und einschlägige Pressearbeit Öffentlichkeit für Umwelt- und Klimaanliegen. Die Klimabewegung Fridays for Future richtet seine Forderungen bewusst an die Politik und lässt sich nicht mit Aufforderungen zur Änderung des persönlichen Lebensstils abspeisen (Daniel et al 2021). Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) betreiben anwaltschaftliches Engagement für den Schutz der Natur und anderer Lebewesen. Umweltverbände nehmen mit ihren zahlreichen Mitgliedern Einfluss auf die Umwelt- und Klimapolitik. Wichtig ist auch Lobbying als Teil von Demokratie. Think Tanks und Ökoinstitute liefern Expertisen und Studien.[9] Das Problem liegt in den nach wie vor sehr ungleich verteilten Ressourcen. Lobbys von Wirtschafts-, Industrie- und Agrarverbänden können Partikularinteressen durchsetzen, wie etwa die Umweltjournalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres in ihrem Buch „Die Klimaschmutzlobby“ (2020) darlegen. Einrichtungen wie das „EU-Transparenz-Register“ oder „LobbyControl“ versuchen, den verdeckten Einfluss von potenten Wirtschaftsverbänden öffentlich zu machen.[10] Doch auch die Wirtschaft ist kein monolithischer Blick. Umdenken findet auch hier statt. Bewegungen wie die „Gemeinwohlökonomie“ zeugen davon.[11]
Der Ansatz des Multisolving: Systemisch gedacht erzeugen Maßnahmen für den Klimaschutz Co-Benefits wie gesunde Luft, lärmfreie und begrünte Städte, Platz für Fußgänger und Radfahrende. Aktive Mobilität, d. h. Radfahren und Zu Fuß-Gehen, tut nicht nur dem Klima gut, sondern auch unserem Körper (Schurmann 2022, 142f.). Als Beispiel für Multisolving gilt Paris: Bürgermeisterin Anne Hildago argumentierte die massiven Verkehrsbeschränkungen für Autos mit der Gesundheit der Menschen, die an den Durchzugsstraßen leben, weniger mit Klimaschutz (Joeres 2022). Der Zugewinn an Lebensqualität durch weniger Konsum, mehr Freizeit und sinnvolles gemeinsames Engagement kann ebenfalls als Benefit gewertet werden. Stichwort: Neue Bilder von Wohlstand entwickeln (Holzinger 2016).
Der Ansatz der genügend großen Zahl: Die Politikwissenschaftlerin Erica Kenowethder Universität Harvard hat in einer Langzeitstudie die Wirksamkeit von sozialen Bewegungen untersucht.[12] Einezentrale Aussage: Die Proteste müssen friedlich sein. Gewaltfreier Widerstand ist bedeutend erfolgreicher als Gewalt, so das Ergebnis einer Analyse von Protesten des Zeitraums 1900 – 2019. Ein weiteres Ergebnis: Es braucht keine Mehrheiten in der Bevölkerung, um Veränderungen zu erreichen. Qualifizierte Minderheiten tun es auch. 3-5 Prozent, die sich für ein Ziel aktiv einsetzen, und 20 – 25 Prozent derer, die es unterstützen, genügen für den Umschwung (zit. n. Schurmann 2022, 164f). Der Politikwissenschaftler Harald Welzer (2014, 2020) geht davon aus, dass fünf Prozent, die sich für Klimaschutz engagieren, für die Wende reichen. Wichtiger Zusatz: diese fünf Prozent der Aktiven müssen in allen Gesellschaftsbereichen zu finden sein. Das geänderte Bewusstsein in der eigenen Blase reicht nicht – alle Institutionen und Handlungsfelder brauchen Menschen, die für das Neue eintreten.
Ansatz der sozialen Kipppunkte: Wir kennen Kipppunkte aus der Ökosystem- und Klimaforschung. Ein über eine lange Zeit stabiler Zustand kann plötzlich kippen, wenn eine bestimmte Grenze der Belastungen erreicht ist. Als Beispiele gelten das Auftauen der Permafrostböden, die zu einem gewaltigen Methan-Ausstoß führen würden, oder das Kippen des Golfstroms, der Europa bedeutend tiefere Temperaturen bringen würde. Zur Veranschaulichung wird das Bild einer Badewanne herangezogen, die sich langsam füllt und irgendwann übergeht, wenn der Hahn nicht zugedreht bzw. der Abflussstöpsel nicht entfernt wird. Soziale Kipppunkte funktionieren, so dieser Ansatz, ähnlich. Bewusstseinsveränderungen gehen langsam vor sich – analog dem Füllen der Badewanne. Doch aktuelle Ereignisse können diese rasch beschleunigen. Damit dies geschieht, braucht es aber die Informationsarbeit und Bewusstseinsbildung davor (Dohm/Schulze 2022, van Brunswijk 2022). Als Beispiele gelten im Bereich der Grundrechte die Me too- und Black Lives Matter-Bewegung, die jeweils durch ein aktuelles Ereignis – Übergriffe prominenter Schauspieler auf Kolleginnen bzw. der weitere Tod eines Schwarzen durch die Polizei in den USA – plötzlich stark wurden. Im Bereich des Klimaschutzes führten das charismatische Auftreten von Greta Thunberg sowie die Entstehung von Fridays for Future zu einer stärkeren politischen Beachtung der Klimakrise – neben den sich häufenden Katastrophen. Ältere Beispiele wären BSE, das das Ernährungsbewusstsein verändert hat, sowie die Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima, die in mehreren Ländern zu Ausstiegsbeschlüssen aus der Atomenergie geführt haben. Als aktuelles Beispiel gilt die Corona-Pandemie, die zu einem weiteren Digitalisierungsschub sowie neuen Kommunikationsformen geführt hat (Holzinger 2020b). Die Pandemie sowie der Krieg gegen die Ukraine haben Überlegungen zu resilienten Wirtschaftsstrukturen einen starken Auftrieb gegeben. Wichtig ist, dass die Alternativen bereits vor dem Kipppunkt entwickelt wurden, um dann abrufbar zu sein.
Ansatz der Konsumkompetenz: Der Kauf von Dingen darf Freude machen. Aber Achtung: „Erlebnisse können wir nicht kaufen“, so die Konsumforscherin Gabriele Sorgo (2011). Konsumkompetenz erfordert, Werbebotschaften kritisch analysieren zu können, den Drang nach Impulskäufen zu reflektieren (Warum will ich das jetzt, brauche ich es wirklich?) und den Gebrauchswert von Gütern in den Vordergrund zu stellen: Wie lange hält das Produkt (Garantiefristen)? Wie ist das Verhältnis von Gebrauchswert und Preis (Preis-Leistungsverhältnis, Markenfetischismus)? Wie können Güter lange Im Kreislauf bleiben (Warum nicht Second-Hand-Kleider kaufen oder schenken)? Wichtig ist, wieder einen Bezug zu den Dingen herzustellen: Wie können wir uns befreunden mit den Gegenständen, mit denen wir uns umgeben? (Holzinger 2016, 2020a, b) Zugleich ist es wichtig, zu betonen, dass Abstimmungen in den Parlamenten stattfinden, und nur begrenzt an den Supermarktkassen, und dass Appelle an Verzichte und Ökomoral (Kopatz 2020) nur begrenzt wirken. Damit alle sich nachhaltig verhalten (müssen), brauchen wir neue Regeln für alle. Dazu passt der folgende Ansatz.
Ansatz der Grenzen des Öko-Konsums: Armin Grunwald (2012) vom Karlsruher Institut für Technologie erklärt, warum uns „Öko-Konsum nicht retten wird“. Er sieht ein Mobilisierungsproblem: Nur als Massenphänomen wäre Öko-Konsum wirksam, nicht jedoch als Nischenphänomen. Als Konsument:innen seien wir zudem überfordert allein aufgrund des Zeitdrucks bei Kaufentscheidungen sowie der vielen Informationen, die zu berücksichtigen wären. Zudem gebe es einen Mangel an Systemwissen und Fehlwahrnehmungen, z. B. bedeute Wassersparen nicht weniger duschen, sondern weniger wasserintensive Importprodukte wie Baumwolltextilien zu konsumieren („virtueller Wasserfußabdruck“). Auch das Trittbrettfahrer-Dilemma sei zu bedenken: Fahre ich weniger Auto haben andere mehr Platz zum Fahren. Nicht zuletzt fördere Ökokonsum den Trend zur Selbstberuhigung: „Ich tue ja eh schon was.“ Nötig sei den „Kurs des Tankers“ insgesamt zu ändern. Grunwald schlägt daher einen TÜV der Nachhaltigkeit für alle Gesetzesvorhaben vor. Das passt zum nächsten Ansatz.[13]
Ansatz der umwelt- und klimapolitischen Bildung: Jede:r kann zur Abwendung der Umwelt- und Klimakrise beitragen. Aber: Nicht jede:r ist für alles verantwortlich. Es ist daher wichtig, Verantwortungsbereiche zu klären, selbst Verantwortung zu übernehmen, wo man Einfluss hat, aber auch die Verantwortlichkeit anderer einzufordern: bei Politik, Unternehmen, Medien. Genau das macht die Klimabewegung von „Fridays for Future“ (Daniel et al 2021).Wichtig ist auch – das gehört genuin zu Politischer Bildung – die Positionen der politischen Parteien zu Nachhaltigkeitsthemen sowie Forderungen von NGOs zu recherchieren, z. B. des Klimavolksbegehrens in Österreich (Rogenhofer/Schlederer 2021, für Deutschland Plöger 2020). Sich über Gesetzgebungsverfahren zu informieren und juristische Schritte, etwa Klimaklagen zu unterstützen (Klein 2021), ist ebenso von Belang für strategisches Vorgehen. Denn letztlich werden wir bedeutend mehr verbindliche neue Regeln des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Konsumierens brauchen (Holzinger 2020a).
Ansatz der Wechselwirkungen und gegenseitigen Verstärkung: Die Frage, ob die bessere Gesellschaft den besseren Menschen macht oder umgekehrt, wird vielfach diskutiert. Der Verfasser dieses Textes plädiert in seinem Arbeitspapier „Wann lernen Gesellschaften?“ (Holzinger 2020a) für eine Wechselwirkung und schlägt ein fünfstufiges Modell vor, das die Bildung und Forschung, die Medien und die Politik berührt. Es geht um fünf Bereiche, die einander befruchten und Veränderungen anstoßen. Nicht nach dem Prinzip „Entweder-Oder“, sondern im Sinne des „Sowohl als auch“.[14]
- Wissen: Wissen um die Folgen des eigenen Tuns bzw. Unterlassens und Wissen um nachhaltige Alternativen
- Sollen: Nachhaltiges Verhalten wird von der Gesellschaft verlangt, kollektive Werte entsprechen den Nachhaltigkeitszielen.
- Wollen: Nachhaltiges Verhalten wird verinnerlicht und zum Teil der persönlichen Identität.
- Können: Vorhandensein der Rahmenbedingungen und Strukturen, die ökologisches Verhalten ermöglichen und fördern.
- Müssen: Gesetze schreiben nachhaltiges Verhalten vor.
„Wissen“, „Sollen“ und „Wollen“ fällt in den Aufgabenbereich von Bildung, Medien und Wissenschaft, „Können“ und „Müssen“ in den Aufgabenbereich der Politik.[15]
Mehrebenen-Ansatz des „Sowohl-als-auch“: Bei Vorträgen werde ich häufig gefragt, wo man selber am besten ansetzen kann und soll. Ich plädiere für einen Mehrebenen-Ansatz. Wir brauchen das Engagement für Klima- und Umweltschutz in allen Gesellschaftsbereichen – der Wirtschafts- und Arbeitswelt, der Bildung und Forschung, in den Verbänden, in den Medien und in der Zivilgesellschaft. Und selbstverständlich in der Politik auf allen Ebenen – von der Kommune über die Nationalstaaten bis hin zu den internationalen Gremien (Holzinger 2020a). Wir brauchen Menschen, die in die Institutionen gehen und dort Nachhaltigkeitsbelange einbringen. Es ist wichtig, dass wir NGOs unterstützen oder in diesen mitarbeiten, da diese die Missstände und Versäumnisse der Politik und Unternehmen aufzeigen. Es ist aber ebenso wichtig, dass sich Menschen in Gruppen zusammenfinden und Neuansätze erproben – im Sinne der genannten Pionier:innen des Wandels. Man soll sich dort einbringen, wo man beruflich tätig ist, und in der Freizeit dort, wo man sich am meisten beheimatet fühlt, wo man gerne mitmacht. Nicht zuletzt geht es um die Änderung des persönlichen Lebensstils, auch wenn man als Einzelne(r) wenig Gewicht hat, erzeugen viele Einzelne auch Wirkung. Und selbst möglich nachhaltig zu leben, macht auch das politische, unternehmerische oder zivilgesellschaftliche Engagement glaubwürdig – im Sinne von „Walk your talk“.
Literatur
Bilstein, Frank et al. 2019. Umfrage des Kearney-Instituts, https://www.de.kearney.com/documents/1117166/5477168/CO2+Aufkla%CC%88rung.pdf/d5fba425-3aec-6a4e-fb2d-9b537c7dd20b?t=1583241728608, abgerufen am 2.1.2022.
Binswanger, Mathias (2008): Die Tretmühlen des Glücks. Freiburg
Binswanger, Mathias (2019): Der Wachstumszwang. Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Weinheim
Daniel, Antje u.a. (2021): Die Klimakrise deuten und Veränderungen einfordern. Eine Framing-Analyse der Fridays for Future. In: SWS-Rundschau 2012/1
Dohm, Lea; Schulze, Mareike (2022): Klima-Gefühle. Wie wir an der Umweltkrise wachsen, statt zu verzweifeln. München
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin
Götze, Susanne; Joeres, Annika (2020): Die Klimaschmutzlobby. Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen. München
Grunwald, Armin (2012): Das Ende einer Illusion.Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. München
Holzinger, Hans (2013): Wie kommt es zum Wandel? In: Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung. Wien
Ders. (2016): Von nichts zu viel – für alle genug. Perspektiven eines neuen Wohlstands. München
Ders. (2018): Wie wirtschaften. Ein kritisches Glossar. Salzburg
Ders. (2020a): Wann lernen Gesellschaften? Gelingensfaktoren und Barrieren für den gesellschaftlichen Wandel im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung. JBZ-Arbeitspapier 49. Salzburg
Ders. (2020b): Post-Corona-Gesellschaft. Was wir aus der Krise lernen sollten. Wien
Ders. (2022): Gutes Leben für alle – Wohlstand ohne Wachstum. Beitrag in Sustainable Austria 84 von SOL – Menschen für Solidarität, Ökologie, Lebensstil, 3-4 und 12. Download: https://nachhaltig.at/symposium2022
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. München
Hickel, Jason (2018): Die Tyrannei des Wachstums. Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist. München
Joeres, Annika (2022): Notre Anne von Paris. In: FuturZwei Nr. 19, 26-29
Klein, Naomi (2021): How we can change everything. München
Kristof, Cora (2021): Wie Transformation gelingt. Erfolgsfaktoren für den gesellschaftlichen Wandel. München
Kopatz, Michael (2016): Öko-Routine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München
Kopatz Michael (2020): Schluss mit der Ökomoral. München
Linz, Manfred (2012): Wie lernen Gesellschaften – heute? Wuppertal-Paper
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Plöger, Sven (2020): Zieht euch warm an, es wird heiß! Den Klimawandel verstehen und aus der Krise für die Welt von morgen lernen. Berlin.
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[1] Suffizienz hat eine lange Tradition von Aristoteles (384-322 v. Chr.), der den Begriff “Das rechte Maß” geprägt hat, bis hin zu Henry David Thoreau (1817 – 1862), einem kanadischen Philosophen, der bekannt wurde mit der Aussage: „Der Mensch ist reich in Proportion zu den Dingen, die sein zu lassen er sich leisten kann“ (Thoreau 1971).
[2] Download: https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation
[3] Mehr siehe https://energiegemeinschaften.gv.at
[4] www.futurzwei.de, www.kartevonmorgen.org, www.salzburgnachhaltig.org
[5] Quelle: ORF online
[6] https://www.psychologistsforfuture.org/
[7] Parentifizierung meint in der Psychologie und Sozialarbeit das Phänomen, dass Kinder die Rolle von Erwachsenen übernehmen, wenn die Eltern diese nicht ausfüllen und wahrnehmen (können).
[8] Mehr siehe www.postwachstum.de, www.wachstumimwandel.at, www.degrowth.info/
[9] Siehe auch Abschnitt „Akteursansatz“
[10] https://www.lobbycontrol.de, https://ec.europa.eu/info/about-european-commission/service-standards-and-principles/transparency/transparency-register_de,
[12] https://www.hks.harvard.edu/faculty/erica-chenoweth, https://dataverse.harvard.edu/dataverse/navco
[13] Studien zeigen, dass Menschen die Wirkung von Umweltmaßnahmen häufig falsch einschätzen. So sah in einer Umfrage im Auftrag der Deutschen Umweltbundesagentur die Mehrheit im Vermeiden von Plastiktüten den wirksamsten Weg, gegen die Klimakrise anzugehen (wahrscheinlich, weil dieses Thema gerade stark in der Öffentlichkeit war, Stichwort „Plastik im Meer“), während die tatsächlich wirksamsten Maßnahmen im Bereich der Wärmedämmung von Gebäuden, der Verringerung der Autofahrten und des Fliegens sowie einer Beschränkung des Fleischverzehrs liegen (Bilstein et al 2019).
[14] Download: https://jungk-bibliothek.org/2020/05/01/ap-49-wann-lernen-gesellschaften/
[15] Auf das Müssen drängen auch Expert:innen der Tiefenpsychologie (Mendelsohn 2011, Schmidbauer 2011).