In seinem Buch „Friedenstüchtig“ (Rezension siehe hier) rekonstruiert der Historiker und Journalist Fabian Scheidler ausführlich die Entwicklungen, die zum Krieg gegen die Ukraine geführt haben, sowie das Scheitern, den Krieg frühzeitig zu beenden. Putins Krieg wird keineswegs schöngeredet, aber das Buch konzentriert sich auf die nach Auffassung des Autors Fehlreaktionen des Westens bzw. der EU in diesem Konflikt.

Scheidler nennt drei mögliche Reaktionsweisen für den Westen, um gegen die Invasion der russischen Armee in die Ukraine vorzugehen, von denen die militärische Antwort gewählt wurde:

„Entweder man nahm eine neutrale und diplomatisch vermittelnde Haltung ein, um den Krieg einzudämmen und zu beenden; oder man versuchte, Diplomatie und militärische Unterstützung der Ukraine zu verbinden; oder man setzte ausschließlich auf die militärische Karte und auf Sanktionen, um Russland in die Knie zu zwingen, ohne diplomatische Optionen zu nutzen. Die NATO-Staaten entschlossen sich für die dritte Variante. Sie machten den Krieg auf diese Weise zu ihrem eigenen Krieg, auch wenn sie selbst keine Kampftruppen entsendeten“ (S. 53)

Als Historker rekonstruiert Scheidler die anfänglichen Versuche, unter Vermittlung der Türkei, Schweiz und Israels, den Krieg rasch zu beenden und zu einem Waffenstillstand zu kommen („10-Punkte-Plan“), was von Vertretern der NATO, insbesondere des damaligen britischen Premiers sowie des US-Präsidenten abgelehnt wurde (Macron und Scholz hatten anfänglich versucht, diplomatischzu vermitteln). Der Autor zitiert Aussagen des damaligen israelischen Premiers Naftali Bennett, des Schweizer Botschafters in der Türkei Jean Daniel Ruch sowie des türkischen Außenministers Mevlüt Cavisoglu, die alle drei diese Sichtweise bestätigen:

„Der Westen hat die Verhandlungen abgebrochen, die kurz davor standen, zu einer Waffenruhe zu führen.“ (Schweizer Botschafter in der Türkei Jean Daniel Ruch, zit. S. 57)

„Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstllstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.“ (Israelischer Ex-Premier Naftali Bennett, zit. S. 56)

„Ich hatte den Eindruck, dass es innerhab der NATO-Mitgliesstaaten Kräfte gibt, die eine Fortsetzung des Krieges wollten – damit der Krieg weitergeht und Russland schwächer wird. Die Lage in der Ukraine ist ihnen ziemlich egal.“ (Türkischer Außenminister Mevlüt Cavisoglu, zit. S. 57)

Scheidler zeigt an keiner Stelle Verständnis für das militärische Vorgehen Putins, er kritisiert aber das „Ausschalten von Abwägungsprozessen“ (S. 60) sowie das Fehlen einer realistischen Lageeinschätzung in Bezug auf die Reaktionen:

„Westliche Regierungsvertreter verwiesen, wenn sie die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete forderten, immer wieder – und das vollkommen zu Recht – auf die UN-Charta, die dieUnveretztlichkeit des Staatsterritoriumsund das Selbstverteigungsrecht der Ukriae einschloss. Was aber aufseiten wetlicher Politik kaum statfand, war eine realistsche Einschätzung, ob eine Rückeroberung überhaupt möglich war und falls ja, zu welchem Preis.“ (S. 60)

Führende Militärs in den USA, aber auch in der Ukraine selbst, hätten vor dieser Option gewarnt:

„Trotzdem setzten sowohl die US-Regierung als auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock weiter um jeden Preis auf einen Sieg, den die eigenen obersten Militärs für unerreichbar hielten.“ (S. 60)

Und weiter:

„Die Frage, wie viele Menschen in der Ukraine sterben sollen, um den künftigen Grenzverlauf um wieviele Kilometer zu verschieben, gilt bei vielen, die sich als Freunde der Ukraine in Szene setzen, als zynisch und unsolidarisch mit den Angegriffenen. Aber ist es nicht im Gegenteil zynisch, genau diese Frage nicht zu stellen? Wer stirbt, sind schließlich Ukrainer und russische Soldaten, nicht diejenien, die in Berlin oder Washington über Kriegsziele ud hehre Prinzipien philosophieren.“ (S 60f.)

Scheidler geht auch auf das Argument der Appeasement-Politik gegenüber Hitler ein, das er kritisiert, da die heutige historische Situation eine andere sei. Die russische Führung habe weder das Potenzial noch die Absicht, ganz Europa zu überfallen. Die Kriegsziele in der Ukraine seien klar: kein NATO-Beitritt der Ukraine, weiterhin Zugang zum Schwarzen Meer, Behalt der besetzten Gebiete im Donezk. Scheidler beruft sich hier auch auf den US-Geheimdienst:

„Dass Moskau eine Konfrontation zu vermeiden sucht, bekräftigt auch der US-Geheimdienst, der feststellt, dass der Kreml ´mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO interessiert ist´.“ (S. 63)

Kurz gesagt:

„Russlands Vorgehen ist zwar illegal und brachial, aber von den Welteroberungsplänen der Nazis weit entfernt.“ (S. 62)

Der Krieg wurde von Wladimir Putin vom Zaum gebrochen. Durch die Verfolgung realitätsferner Ziele und die Verweigerung von Diplomatie habe jedoch auch der Westen für alle Beteiligten großen Schaden angerichtet, so das ernüchternde Fazit des Historikers:

„Die Ukraine hat gegenüber dem Verhandlungsstand vom April 2022 (Istanbuler Gespräche, Anm. HH) erheblich an Territorium eingebüßt, das sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zurückbekommen wird. Sie hat außerdem, was viel tragischer ist, Hunderttausende von Toten zu beklagen, eine viel größere Anzahl an lebenslangen Behinderungen und Traumatisierungen davongetragen.“ (S. 64)

Hier kann zu Recht der Einwand gebracht werden, dass der Krieg von Putin begonnen wurde. Scheidler geht auch darauf ein:

„Auch wenn die russische Armee dafür unmittelbar verantwortlich ist, hätte sich vieles davon verhindern lassen, wenn der Westen konsequent eine diplomatische Lösung in der Frühphase des Konfliktes unterstützt hätte.“ (S. 64)

Die Fehler des Westens entschuldigen nicht den von Putin begonnenen Krieg gegen die Ukraine. Aber nicht darüber zu sprechen, ist ebenso problematisch. Scheidler rekonstruiert auch die Vorgänge um die Maidan-Revolution, die innenpolitischen Schwierigkeiten in der Ukraine (der frisch gewählte Präsident Wolodymyr SelenskyJ stand unter starkem Druck der extremen Rechten), die frühen Bemühungen, die Konflikte um die umkämpften Gebiete in der Ostukraine zu lösen („Minsker Abkommen II“) und das zugleiche Vorantreiben einer NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine trotz warnender Stimmen. Zu Wort kommt etwa Henry Kissinger – „alles andere als ein Putin-Freund“ (S. 136), der im März 2014 geschrieben hat:

„Um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandes Vorposten sein. Vielmehr sollte sie eine Brücke zwischen beiden Seiten darstellen. … Wir sollten uns um Versöhnung bemühen, und nicht um eine Dominanz einer der Fraktionen. … Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politk. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik.“ (zit. S. 136)

Dem kann man entgegenhalten, dass es das Recht jedes Landes sei, seine Sicherheitsarchitektur selbst zu wählen und dass es keine Garantie gegeben habe, dass Putins Imperialismus nicht doch zuschlagen würde. Aber nach drei Jahren Krieg wissen wir, wie hoch der Preis für den eingeschlagenen Weg war und ist. Der Russland-Experte Gerhard Mangott [2] hat mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Waffenstillstand und ein diesem folgender Frieden nur mit Russland möglich sei, so schwierig es sein mag, mit einem Aggressor zu verhandeln. Gebiete abzutreten bedeutet, dem Aggressor nachzugeben, aber gibt es eine andere Wahl? Der aktuelle Vorschlag von Putin, auf besetzte Gebiete zu „verzichten“, wenn der Oblast Donezk Russland zugeschlagen und wenn die Ukraine nicht der NATO beitritt, ist für die Ukrainer:innen schmerzvoll, aber nach all dem erfahrenen Leid vielleicht das geringere Übel.

Resümee

Die Toten werden nicht mehr lebendig, die ukrainische Wirtschaft liegt am Boden, der Wiederaufbau des Landes wird Milliarden kosten, ebenso die nun geplante weitere Hochrüstung Europas. Aber Scheidlers kritische Rekonstruktionen und Analysen bleiben wichtig und müssen öffentlich diskutiert werden. Genauso wie jene des soeben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Historikers Karl Schlögl, der eine ganz andere Sihtweise vertritt und Europa vor Putin warnt. [3] Das Ziel von Geschichte ist es, daraus Lehren zu ziehen. Dafür braucht es unterschiedliche Sichtweisen [4]. Den Menschen in der Ukraine ist ein baldiger Waffenstillstand und Friedensschluss zu wünschen, den Soldaten auf beiden Seiten, dass sie ihre Uniformen ausziehen und zu ihren Angehörigen zurückkehren können.

„Es ist leicht, empört zu sein, aber schwierig, Wege zu finden, die aus der Eskalation herausführen. Wenn das Ziel ist, das Blutvergießen einzugrenzen und den Krieg zu stoppen, dann zählt nicht die Frage, was Recht und Unrecht ist, sondern was die Chancen erhöht, dieses Ziel zu erreichen.“ Dies schrieb ich mehrere Wochen nach Kriegsbeginn auf diesem Blog [5]. Und ich zitierte damals Autor:innen der Hessischen Stiftung für Frieden und Konfliktlösung: „Die große Herausforderung für die Zukunft der internationalen Beziehungen ist der Aufbau neuer Kooperationsstrukturen – in Europa und in der Welt.“ Das hat drei Jahre später mehr Gültigkeit denn je.

[1] Scheidlers Buch „Das Ende der Megamaschine“ wurde zum internationalen Bestseller. mehr

[2] Allgemeiner Wille zum Waffenstillstand“ – Ein Beitrag aus German Foreign Affairs zwei Jahre nach dem Beginn von Putis Ankriffskrieg.

[3]  „Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben.“ In: Der Standard 19.10.2025

[4] Der Politikwissenschaftler & Kollege Markus Pausch sieht Scheidlers Darstellung problematisch. Er hat mir mehrere alternative Quellen gesandt, die hier gerne angefügt werden.  Marina Weisband über den Krieg in der Ukraine: Alleingelassen | Jüdische Allgemeine. Ukrainische Autorin Sofia Andruchowytsch über Krieg, Schreiben und Identität – Literatur – derStandard.at › Kultur.  rbbKultur: Katja Petrowskaja und der Krieg in der Ukraine – hier anschauen. Marjana Gaponenko, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin.  Tanja Maljartschuk: „Heimat ist da, wo deine Traumata sind“.  Inna Schewtschenko: „Putin behandelt die Ukraine wie eine Frau“ | ZEITmagazin

[5 „Empörung ist verständlich, wird aber nicht reichen. Anmerkungen zum Ukraine-Konflikt und Putins Aggressionskrieg“. Im Beitrag „Reden über den Krieg. Ein Versuch über das scheinbar Unmögliche“ formulierte ich: „Verteidigungskrieg ist in der Tat – auch völkerrechtlich – von Angriffskrieg zu unterscheiden. Aber Krieg bleibt Krieg und bedeutet Tod von Menschen und Zerstörung von Infrastrukturen sowie von Vertrauen.“ An anderer Stelle fragte ich provokant „Wie viele Menschenleben ist die Verteidigung eines Territoriums wert“ und plädierte für einen reflexiven Pazifismus.