Putin hat viele rote Linien überschritten. Unsere Solidarität gehört den vom Krieg überzogenen Menschen in der Ukraine. Doch in der aktuellen Situation zählt nicht, was Recht und Unrecht ist, sondern wie der Krieg und das Blutvergießen beendet werden können. Hier der Versuch eines kleinen Beitrags dazu.

Die Stärke des Rechts und das Recht des Stärkeren

Dieser völkerrechtswidrige Krieg gegen den ukrainischen Staat und seine Menschen zu verurteilen, ist so selbstverständlich wie folgenlos. All die Empörungen westlicher Politiker und Politikerinnen, nicht selten mit Pathos vorgetragen („Die Freiheit der Ukraine ist auch unsere Freiheit“, Emanuel Macron), all die angedrohten und in die Wege geleiteten Sanktionen zeigen bislang keine Wirkung. Sie machen keinerlei Eindruck auf den Kriegstreiber. Es stimmt: Die Stärke des Rechts muss über dem Recht des Stärkeren liegen. Aber was tun, wenn sich der Stärkere nicht daranhält? Die Ukraine ist weder Mitglied der Europäischen Union noch des Militärbündnisses der NATO. Sie steht nun allein da. Putin wusste dies von Anfang an. Aber gesetzt den Fall, das Land wäre bereits NATO-Mitglied geworden, wie es ja der Wunsch der Kiewer Führung war? Hätte Putin dann vor einer Invasion zurückgeschreckt – oder hätte er trotzdem angegriffen mit der Folge einer weiteren Ausbreitung des Krieges? Stichwort: „Verteidigungsfall für das Militärbündnis“. Ganz anders: Was wäre gewesen, wenn die ukrainische Führung die Parole ausgegeben hätte: Wir leisten keinen militärischen Widerstand, um Blutvergießen zu verhindern? Wie lange hätte Putin die Besatzung des 40 Millionen Einwohner zählenden Landes aufrechterhalten können? Der Fall ist hypothetisch: Jede Armee der Welt wird zum Kämpfen ausgebildet, nicht zu gewaltfreiem Widerstand. Nun wird versucht, durch internationale Waffenlieferungen an die Ukraine den Preis für Putin zu erhöhen. Ob er dadurch einlenkt, ist ungewiss. Doch die Zahl der Toten auf beiden Seiten steigt mit der Dauer der Kämpfe.

Es ist leicht, empört zu sein, aber schwierig, Wege zu finden, die aus der Eskalation herausführen. Wenn das Ziel ist, das Blutvergießen einzugrenzen und den Krieg zu stoppen, dann zählt nicht die Frage, was Recht und Unrecht ist, sondern was die Chancen erhöht, dieses Ziel zu erreichen. Das unterscheidet eben Verantwortungsethik von Gesinnungsethik. Natürlich ist es das Recht souveräner Staaten bzw. deren gewählter Regierungen, über ihre wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ausrichtung souverän zu entscheiden. Aber war es klug, Russland dabei außen vor zu lassen? Viele Expert:innen der Friedensforschung haben seit langem vor der Ausweitung der NATO gegen Osten gewarnt. Der Konflikt um die Ukraine war nie bereinigt und schwelt seit der Absetzung der russenfreundlichen Regierung im Jahr 2014. Die Annexion der Krim war ebenso völkerrechtswidrig, aber musste hingenommen werden. Das war Putin jedoch zu wenig. Schon mit dem Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine und über Belarus in den letzten Wochen und Monaten hat sich der Machthaber auf die internationale Bühne zurückkatapultiert – ähnlich wie im Syrienkrieg. Und es war abzusehen, dass der Anerkennung der ostukrainischen Republiken Donezk und Luhansk sowie dem „Beistandsgesuch“ der Separatistenführer der Einmarsch russischer Truppen folgen würde. Dass gleich die ganze Ukraine mit Krieg überzogen wird, hat aber wohl alle überrascht.

Neutralisierung der Ukraine aus Ausweg?

Spät aber doch wird nun eine Neutralisierung des Landes ähnlich jener Finnlands ins Gespräch gebracht. Ob diese das Ruder noch herumreißen könnte, ist zumindest kurzfristig zweifelhaft. Die Ziele Putins sind nun klar, er hat sie in seiner Kriegsrede auch ausgesprochen: die Zerstörung der ukrainischen Armee und der militärischen Infrastrukturen, aber auch die Absetzung der „verräterischen“ ukrainischen Führung und die Installierung eines Moskau-treuen Regimes. Wie es aussieht, kann das durchaus gelingen. Nur auf das Völkerrecht zu pochen, reicht nicht – dieses wurde ja bereits vielfach gebrochen von den unterschiedlichsten Mächten. Auch ob die Wirtschaftssanktionen ihr Ziel erreichen, bleibt ungewiss. Der Konflikt lehrt, dass es mehr als eine Denklogik gibt und auch mehrere Erzählungen über die Bedeutung eines Landes.

Westliche Demokratien zeichnen sich durch Offenheit und freie Meinungsäußerung aus, sie werden aber auch durch das Wohlstandsversprechen zusammengehalten. Und sie sind nicht immer friedlich, wenn es um geopolitisch-ökonomische Interessen geht. Auch dazu gibt es Beispiele in der jüngeren Geschichte. Putins Erzählung von der Größe Russlands bezieht sich auf die Tradition seines Landes und auf dessen Stärke durch militärische Macht – weniger auf ökonomische Macht, wie dies bei China der Fall ist; Russlands wirtschaftliche Potenz wird durch den Krieg weiter schwinden.

Der Friedensforscher Werner Wintersteiner weist ebenso wie der Leiter der Diplomatischen Akademie Wien Emil Brix auf die kollektiven historischen Bezüge des Konflikts hin, die in Putins Denken und seinen Reden eine große Rolle spielen. Diese unseren postheroischen Wohlstandsgesellschaften eher fremd gewordenen patriotischen Gefühle zu negieren, gehört wohl zu den Fehlern der internationalen Diplomatie in diesem Konflikt. Da greifen keine Wirtschaftssanktionen. Die aus der Ukraine stammende Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk argumentiert ähnlich. Sie sieht „keinen Dritten Weltkrieg heraufdräuen, sondern das verspätete Ende des Zweiten“. Das Ende der Ukraine bedeute „das Ende Europas, wie wir es kennen“, meint sie.

Neue Sicherheitsarchitektur für Europa

Wie diese neue Sicherheitsarchitektur Europas aussehen wird, ist noch unklar – und ab wann Dialog wieder möglich sein wird, ebenso. Klar ist aber auch, dass ein wirtschaftlich weiter geschwächtes und destabilisiertes Russland nicht unbedingt zum Sturz oder zur Ablöse Putins und seiner Gefolgsleute führen wird, so sehr dies zu wünschen wäre, sondern zu weiteren militärischen Eskalationen führen könnte. Wenn die von der Staatengemeinschaft angepeilte Dekarbonisierung zur Einbremsung der Klimakrise nur annähernd gelingt, dann bedeutet dies allein enorme wirtschaftliche Einbußen für den Rohstofflieferanten Russland. Sollte dessen wirtschaftliche und energietechnische Transformation nicht angegangen werden, so birgt dies zusätzlichen geopolitischen Zündstoff.  Und ob ein militärisch gestärktes EU-Europa die passende Antwort auf den Konflikt ist, bleibt ebenso fragwürdig.

So stark zivilgesellschaftliche Bewegungen derzeit in Russland unterdrückt werden – es gibt sie. Trotz hohem persönlichem Risiko veröffentlichten einige hunderte russische Wissenschaftler:innen und Wissenschaftsjournalist:innen eine Erklärung zum Krieg gegen die Ukraine. Europa und Russland sind nicht nur auf einem Kontinent vereint, sondern müssen auch wieder zu neuen, aber nachhaltigen Wirtschaftsverflechtungen finden – neben vielfältigen zivilgesellschaftlichen Beziehungen auf den Gebieten der Kultur, der Wissenschaft, des Sports sowie des Reisens; all das liegt nun auf Eis, kann aber nicht auf Dauer eingefroren bleiben. „Auch wenn es in der Erregung des Augenblicks illusorisch erscheinen mag, ist jetzt der Zeitpunkt, sich über die Schritte zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa Gedanken zu machen. Auch wenn gegenüber Russland jetzt eine harte Haltung notwendig ist, bleibt der Satz richtig: Wenn Du Frieden willst, musst Du den Frieden auch vorbereiten“, so Autor:innen der Hessischen Stiftung für Frieden und Konfliktlösung. An anderer Stelle in einem Beitrag „Frieden am Ende?„: „Die große Herausforderung für die Zukunft der internationalen Beziehungen ist der Aufbau neuer Kooperationsstrukturen – in Europa und in der Welt.“ Dem schließe ich mich gerne an. „Es gibt größten Grund für politische Anstrengungen, die Diplomatie am Leben zu erhalten, zum Leben zu bringen“, so der deutsche Vizekanzler Robert Habeck. Ob ein militärisch gestärktes EU-Europa oder die über Nacht beschlossenen 100 Milliarden Euro mehr für die deutsche Bundeswehr dazu beitragen, bleibt fragwürdig.

Hans Holzinger ist österreichischer Nachhaltigkeitsexperte und freier Publizist. Er war in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre aktiv. Zuletzt erschien sein Buch „Post-Corona-Gesellschaft“.