[Erschienen in DIE FURCHE, 11. April 2019]
Die Ausbreitung des Massenkonsums – gekoppelt mit dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme – hat die Gesellschaften der westlichen Industrieländer nach 1945 befriedet. Aus politisch „heißen“ Gesellschaften, die für nationalistische und rassistische Ziele fanatisiert waren, wurden „abgekühlte“ Gesellschaften. Kollektive Emotionen zeigte man für die eigene Fußballmannschaft, das nationale Schiteam und die eigene Sportnation, aber immer weniger für politische Ideen oder Bewegungen. Auch weil die Verirrungen im Nationalsozialismus politische Betätigung desavouiert haben. Die Revolten von 1968 – ohnedies weitgehend auf das studentische Milieu beschränkt – bildeten da nur scheinbar eine Ausnahme, sind doch auch sie im Kontext der Prosperitätsphase zu verstehen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schienen der Sieg von Demokratie westlicher Prägung und freier Marktwirtschaft besiegelt. Dem postheroischen Zeitalter mit starken pazifistischen Strömungen – Wohlstandsbürger ziehen nicht mehr in den Krieg – folgte allem Anschein nach das postpolitische Zeitalter. Nichts anderes meinte Francis Fukuyama mit dem „Ende der Geschichte“. Und die zunehmende Säkularisierung schien auch das postreligiöse Zeitalter einzuläuten.
Doch die Geschichte kam, wie wir wissen, anders. Befreit von allen Fesseln und ohne politischen Widerpart zeigte der Kapitalismus wieder sein hässliches Gesicht und erinnerte uns an seine Krisenhaftigkeit. Der Abschied von Vollbeschäftigung und hohen Wachstumsraten schwächte die Gewerkschaften. Dem Wohlfahrtsstaat folgte immer mehr der Wettbewerbsstaat und dieser führte in den Schuldenstaat. Die Spielräume gestaltender Politik wurden enger, die internationalen Interdependenzen größer. Generell setzt sich das Ich-AG-Denken gegenüber dem Wir-Gemeinsam-Denken durch. Mit dem politischen Islam und neuen fundamentalistischen christlichen Bewegungen auf der einen, boomenden Esoterik- und Sinnangeboten auf der anderen Seite war auch das Religiöse wieder zurück. Neue rechte Parteien setzten auf Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Abschottung. Krisendiskurse begannen die öffentlichen Debatten zu bestimmen – von der Umwelt- und Klimakrise über die Wirtschafts- und Finanzkrise bis hin zur Demokratie- und Institutionenkrise. Der Vertrauensverlust in die Lösungskompetenz der Politik scheint proportional zur Zunahme der Probleme, der gefühlten Bedrohungen, aber auch des verfügbaren Wissens zu wachsen.
Was hält moderne, individualisierte Gesellschaften zusammen? Ist es der materielle Wohlstand, das fortwährende Konsumversprechen, die Erwartung, dass die Zukunft noch besser wird oder zumindest nicht schlechter? Oder dass die Kinder eine noch bessere Zukunft haben werden? Dass wir auf die Institutionen des Wohlfahrtssystems sowie der Demokratie generell vertrauen können? Dass die Menschen das Gefühl haben, mit den ökonomischen Umbrüchen – verursacht durch Digitalisierung und Globalisierung – Schritt halten zu können und nicht unter die Räder zu kommen? Alles davon wird wohl eine Rolle spielen. Und: Alle diese Zukunftsversprechen sind – so scheint es – gegenwärtig in Frage gestellt und von Erosion bedroht.
Bemerkenswert ist nun, dass in der aktuellen Krisengemengelage nicht politische Parteien reüssieren, die sich etwa für die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates, eine faire Verteilung des Erwirtschafteten oder den Schutz der Umwelt einsetzen. Vielmehr profitieren jene Parteien aus dieser Verunsicherung, die gegen das politische System auftreten – obwohl sie selbst Teil davon sind, die sozial Benachteiligte als Nutznießer des „überforderten“ Sozialstaats brandmarken und – insbesondere – die Unterbindung des Zuzugs weiterer Flüchtlinge oder Migranten als Allheilmittel propagieren.
Eine aktuelle Studie der renommierten Linguistin Ruth Wodak zeigt, wie in Österreich der anfangs rationale Diskurs darüber, wie die aus dem Syrienkrieg Geflüchteten gut aufgenommen und versorgt werden können, in kurzer Zeit ins Gegenteil umschlug. Einzelereignisse wie die Terroranschläge in Paris oder die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln genügten, um alle Geflüchteten in einen Topf zu werfen und als Sicherheitsrisiko anzuprangern. Jene, die aufgrund der Kriegswirren den strapaziösen Fluchtweg nach Europa antraten, wurden auf einmal als kollektive Gefahr wahrgenommen. Die Bedrohten mutierten zu den Bedrohern. Die Frage war nicht mehr, wie eine menschenwürdige und menschenrechtskonforme Unterbringung der Geflüchteten gewährleistet werden könne, sondern wie Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt und die Grenzen dicht gemacht werden können. Die Schließung der Balkanroute auf maßgebliches Betreiben des damaligen österreichischen Außenministers hat wesentlich zu dessen Wahlerfolg und Kür zum Bundeskanzler beigetragen. Dass er eine Koalition mit jener Partei einging, die schon immer gegen „Ausländer“ hetzte, war da nur folgerichtig. Unterschiede gab es hier nur mehr im „Wording“: betonte der Bundeskanzler zunächst insbesondere die Unterbindung des Schlepperwesens, konnte der neue Koalitionspartner nun seine Abschottungspropaganda ganz offen und offiziell verbreiten. Das Ergebnis für die betroffenen Flüchtlinge war freilich dasselbe.
Nun wäre es verkehrt, das Thema Flucht und Migration zu tabuisieren, so zu tun, als gäbe es hier keine Probleme. „Die Zuwanderer und Flüchtlinge aus den Armuts- und Kriegszonen des Südens werden in fast allen westlichen Gesellschaften nicht nur als wirtschaftliche Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze und Sozialtransfers angesehen“, so der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer in seinem Buch „Der Abstieg des Westens“. „Sie zeigen auch die globalen Realitäten der Gegenwart: das Auftauchen einer neuen, quasi globalen Unterklasse in den westlichen Gesellschaften, die ihren Anteil am eh schon kleiner werdenden Kuchen der westlichen Sozialstaaten einfordert.“ Diese Entwicklung wecke Konkurrenz- und Enteignungsängste und öffne einer Ethnisierung von Identität Tür und Tor.
Im Wesentlichen lassen sich vier Positionen ausmachen: Die Vertreter von „open borders“ plädieren für eine globale Bewegungsfreiheit, die nicht nur für Kapital und Warenverkehr, sondern auch für Menschen gelten müsse. Eine Position, für die wohl kaum demokratische Mehrheiten zu finden sein werden. Eine zweite Gruppe ist den Utilitaristen zuzuordnen: sie argumentieren mit dem Nutzen von MigrantInnen aus demografischen und/oder arbeitsmarktpolitischen Gründen. „Wir brauchen Zuwanderung, um die demografische Lücke zu schließen und die Sozialsysteme auch zukünftig finanzieren zu können“, so diese Argumentationsweise, die insbesondere von Wirtschaftsliberalen vertreten wird. Die Debatte über das Bleiberecht nicht anerkannter junger Flüchtlinge, die derzeit in Österreich erfolgreich eine Lehre oder andere Ausbildung absolvieren, zeigt, dass der Übergang zur dritten Position fließend ist. Diese Gruppe pocht auf die moralische Verantwortung (und menschenrechtliche Verpflichtung) reicher Staaten, Menschen aus ärmeren Ländern bzw. auf Krisengebieten Aufnahme zu gewähren. Die Mehrheit dieser Gruppe entstammt dem bildungsbürgerlich-liberalen Milieu, eine Gruppe also, die durch die Offenheit für Geflüchtete und MigrantInnen am Arbeitsmarkt am wenigsten tangiert ist. Die vierte Gruppe schließlich fordert die Schließung aller Grenzen und den Stopp von Zuwanderung. Diese Sichtweise findet breiten Anklang bei jenen, die tatsächlich um ihre Jobs fürchten (müssen), auch bei früheren Zuwanderern, aber auch bei ehemaligen sozialdemokratischen Stammwählern und gut situierten, konservativen Wohlstandsbürgern. Bei letzteren ist wohl von einer Art „Wohlstandschauvinismus“ auszugehen.
Sündenbockstrategien blockieren rationale Lösungen
Warum fällt die Aufmerksamkeitsreduktion auf die Themen Flucht und Migration auf derart fruchtbaren Boden, mit der nicht nur Wahlen gewonnen werden können, sondern – wie Umfragen aus Österreich zeigen – auch politisches Vertrauen zurückgewonnen werden kann? Unterschiedliche Erklärungsmodelle bieten sich an. Sündenbockstrategien sind aus der Geschichte hinlänglich bekannt: Von der Verfolgung der Hexen im Mittelalter, die für die Pest und Hungersnöte verantwortlich gemacht wurden, über nationalistische Hetzen, mit denen für Kriege begeistert wurde, bis hin zum seit Jahrhunderten existenten Antisemitismus, der in den Progromen und Konzentrationslagern der Nazis endete. Es ist offensichtlich leichter, akute Probleme bestimmten Menschen bzw. Menschengruppen in die Schuhe zu schieben, als deren systemische Ursachen zu erkennen und zu beseitigen. Im Netz kursiert eine Karikatur überschrieben mit „Der selektive Wutbürger“, in der die Frau ihrem Mann aus der Zeitung vorliest, dass die Vorstände der börsennotierten Unternehmen „72 Mal so viel verdienen wie wir Angestellten“, worauf ihr Mann antwortet, dass ihm das zu komplex sei. Er habe lieber seinen Hass auf die Flüchtlinge.
Rationale Auseinandersetzung erfordert mehr Anstrengung als emotionale Schuldzuschreibung. Möglicherweise lassen sich Menschen nur mobilisieren, wenn konkrete Personen am Pranger stehen. Abstrakte Systeme eignen sich nicht für Feindbilder. Menschen fürchten sich nicht – so ein aktuelles Beispiel – vor zu viel Kohlendioxid in der Atmosphäre, sondern vor „zu vielen“ Flüchtlingen. Und Protest formiert sich eher gegen Benzinpreiserhöhungen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen als gegen den Klimawandel oder den Blutzoll, den der Straßenverkehr jährlich fordert.
Ein zweiter Erklärungsstrang führt die Vereinzelung in der modernen Konsumgesellschaft sowie die starke Fremdbestimmung im Korsett der heutigen Arbeitswelt an. Der Neurobiologe Gerald Hüther spricht von der neuen Volkskrankheit „Einsamkeit“, Joachim Bauer von einer häufig überschrittenen „Schmerzgrenze“ in Bezug auf Selbstverleugnung und Entfremdung. Der Sager des österreichischen Bundeskanzlers über die Mindestsicherungsbezieher, die in der Früh ihre schulpflichtigen Kinder allein aufstehen lassen und einfach weiterpennen, mag seine Wirkung aus den verdrängten Aggressionen all jener speisen, die jeden Tag früh aufstehen (müssen) und nicht daran denken, diese jemals zu hinterfragen. Damit hängt zusammen, dass Menschen offensichtlich lieber nach unten treten als sich gegen die Mächtigeren oben aufzulehnen. Manche – so etwa der Ökonom Stephan Schulmeister – sehen hier Versäumnisse in der Aufklärungsarbeit, die es früher in der Arbeiterbewegung gegeben habe, und in der Ideologie der Entsolidarisierung. Andere wiederum meinen, dass alte Wertegemeinschaften wie Religionen oder eben die Arbeiterbewegung an Bindekraft eingebüßt haben und die rechten Bewegungen in dieses Wertevakuum stoßen, wenn auch mit vereinfachenden Botschaften.
Linker Populismus und krisenfeste Systeme
Es gibt Versuche, mit einem „linken Populismus“ (Chantal Mouffe) Menschen für eine emanzipatorische Bewegung zu mobilisieren und die Wut und Empörung weg von den Schwächsten auf die Reichen und Mächtigen zu lenken. Etwa mit Bildern, die den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen die reichen Steuerflüchtlinge gegenüberstellen, oder mit Gleichnissen wie jenem, dass sich der Reiche elf von zwölf Tortenstücken nimmt und dabei den Arbeiter warnt, sich sein Tortenstück nicht vom Flüchtling wegnehmen zu lassen. Gefordert wird Aufklärungsarbeit, die transportiert, dass Gerechtigkeit nicht bedeutet, alle gleich zu machen, sondern den Schwächeren zu helfen und das Erwirtschaftete fair zu verteilen. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin belegt, dass die AfD in jenen Regionen am stärksten wurde, in denen die Kräfte der (ehemaligen) Mitte dem rechten Diskurs nachgegeben haben. Dagegen-Halten wäre demnach die klügere Strategie.
Die Statistiken über die immer ungleicher werdende Vermögens- und Einkommensverteilung sind mittlerweile in allen bürgerlichen Medien nachzulesen. Und es gibt auch in der Politik Gegenbewegungen – exemplarisch stehen dafür der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn in Großbritannien sowie linke Demokratinnen, etwa die neue Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, die New Yorker Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez und natürlich Bernie Sanders, der linke Widersacher Hillary Clintons im letzten Vorwahlkampf. Eine kürzlich publizierte Umfrage hat ergeben, dass eine Mehrheit der US-Bürger und -Bürgerinnen für eine Umverteilung der großen Vermögen eintritt. Ein politischer Umschwung ist also durchaus denkbar. Jede Bewegung erzeugt Gegenbewegungen. Jahrzehnte der Durchdringung der Öffentlichkeit mit neoliberalen Diskursen sind nicht von heute auf morgen abzuschütteln, aber möglich. Klare Botschaften sind dabei wichtig, um Menschen zu erreichen: um das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu erkennen, braucht es kein Wirtschaftsstudium. Vielmehr geht es darum, welche Erzählungen sich öffentlich am besten Gehör verschaffen – die völkisch-nationalistischen der Rechten oder die auf Solidarität und einem neuen Klassenbewusstsein der progressiven Kräfte.
Die Abkehr vom Multilateralismus und das Schüren neuer nationalistischer Feindbilder sind gefährlich. Doch das darf uns nicht daran hindern, die Globalisierung wie sie derzeit stattfindet, zu kritisieren. Globalisierung ist nicht per se und nicht immer gut und sinnvoll. Und auch die Europäische Union darf und soll kritisiert werden. Aus sozialen und ökologischen Gründen werden wir Bilder von einem guten Leben jenseits von immer neuen Konsum- und Wachstumsversprechen brauchen. Konzepte resilienter, krisenfester Marktwirtschaften mit einem geordneten Finanzsektor sowie einer stärkeren regionalen Ausrichtung der Wirtschaftskreisläufe sind gefragt. Ernährungs- und Energiesouveränität stehen dafür ebenso wie neue Möglichkeiten lokalen Produzierens mittels digitaler Technik.
Die Verteilungsdebatte ist aus ethisch-moralischer Sicht geboten, aber auch aus systemischen Gründen. Die Politik der öffentlichen Verschuldung schiebt das Problem der auseinander driftenden Verteilung des Wirtschaftsprodukts ebenso lediglich hinaus wie jene des billigen Geldes, das nicht in die Realwirtschaft fließt, sondern zur weiteren Aufblähung des Vermögens- und Finanzsektor führt. Wolfgang Streeck spricht von einer „vertagten Krise“. Der nächste Absturz stehe bevor, er werde nur schlimmer ausfallen als jener von 2008. In diesem Sinne erforderte das Gebot der Klugheit, auch im Sinne der Vermögenden, den Wachstumszwang zu überwinden und den sozialen Ausgleich durch Umverteilung einzuleiten. Historische Erfahrungen dazu liegen ja vor.
Hans Holzinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und pädagogischer Leiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Zuletzt erschienen von ihm „Von nichts zu viel für alle genug“ und „Wie wirtschaften. Ein kritisches Glossar“.