Vortrag beim SOL-Symposium 2020 am 24.5.2020. Zum Videovortrag.

Das mir gestellte Thema lautet „Von der (Klima)krise zum guten Leben für alle“.  Die Klammer bedeutet, dass es auch um die aktuelle Krise, die Corona-Krise, gehen soll. Ich werde das Thema in drei Fragen gliedern:

  • Was lernen wir aus der Corona-Krise? Und lernen wir überhaupt daraus?
  • Kann die aktuelle Krise den Klimaschutz, die Klimapolitik voranbringen? Oder drücken wir einfach die „Reset“-Taste und kehren zurück zum Zustand von davor?
  • Was bedeutet das gute Leben für alle und welche Transformationspfade dahin gibt es?

[1] Was lernen wir aus der Coronakrise? Und lernen wir überhaupt daraus?

Welche Erfahrungen mach(t)en wir in diesem Shutdown? Jedem/r von uns ist im Kopf wohl eine Liste durchgegangen darüber, was wirklich zählt im Leben: Gesundheit, Familie, Nachbarschaften, eine gesicherte Existenz, ein weiterhin planbares Einkommen. Der Wohlfahrtsstaat war plötzlich rehabilitiert – vordergründig auch bei den Neoliberalen, wie es ein Blogkommentar ausgedrückt hat.

Eine wichtige Erfahrung, die man vielleicht auch als Kränkung in einer Machbarkeitsgesellschaft bezeichnen könnte, ist jene, akzeptieren zu müssen, dass es eine Bedrohung gibt, gegen die wir (noch) kein Mittel gefunden haben. Wir kennen Seuchen aus der Geschichte oder weit weg von uns – SARS in Asien oder Ebola in Afrika. Nun waren bzw. sind wir mit einer solchen selbst konfrontiert. Damit auch mit einer Ohnmachtserfahrung, die für Menschen in benachteiligten Weltregionen leben, alltäglich ist: Es sterben Kinder, weil die nötigen Medikamente nicht verfügbar sind. Menschen verhungern, weil ihnen die nötige Kalorienzufuhr versagt ist. Flüchtlinge hausen unter dramatischen Umständen, weil zu wenig Hilfe da ist, weil sie von den Reichen im Stich gelassen werden.

Auch diese Epidemie trifft die Menschen in den ärmeren Ländern viel härter als uns, weil die Gesundheitseinrichtungen nicht verfügbar sind, so etwas wie Sozialsysteme nicht oder kaum existieren – ein Tagelöhner kann nirgends um Kurzarbeit ansuchen, weil einfach die wirtschaftliche Potenz der Staaten eine viel Geringere ist. Warnungen von UN-Generalsekretär Antonio Guttéres zeigen dies ebenso wie jene der Weltgesundheitsorganisation.

Wir erfuhren und erfahren weiters eine doppelte Abhängigkeit: zum einen jene, dass die öffentlichen Infrastrukturen weiter funktionieren und dass bald Medikamente bzw. Impfstoffe gefunden werden; zum anderen, dass sich alle an die vorgeschriebenen Maßnahmen halten (wie weit die alle sinnvoll waren oder ob etwa der schwedische Weg der klügere war, darüber können wir in der Diskussion noch reden). Christian Felber hat in einem seiner Videos die tabuisierte Frage aufgeworfen, dass man die Maßnahmen mit den Folgen der Maßnahmen abwägen müsse, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, etwa durch die Vereinsamung von älteren Menschen in Seniorenhäusern oder auf geriatrischen Stationen durch Besuchsverbote.[1]

Wir haben gelernt, was die wirklich „systemerhaltenden Tätigkeiten bzw. Berufe“ sind. 75 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Einzelhandel in Österreich sind Frauen, im Reinigungsgewerbe sind es 70 Prozent.[2] Ich hoffe, der ihnen verkündete Applaus zeigt sich auch bei den folgenden Lohnverhandlungen. Dass eine Krankenschwester 400 Jahre lang arbeiten müsste, um das Jahresgehalt eines Vorstands der Deutschen Bank zu verdienen, war schon immer ein Skandal, die Corona-Krise zeigt dies einmal mehr.

Und „systemerhaltend“ sind auch die vielen unbezahlten Tätigkeiten in den Familien, den Haushalten, in zivilgesellschaftlichen Netzwerken sind, die im ökonomistischen Denken meist unter dem Radar verbleiben, weil sie eben im BIP nicht aufscheinen. Dazu kamen nun Homeoffice und Homeschooling. Umgerechnet in Vollzeitäquivalente, entspricht allein die in Vereinen und zivilgesellschaftlichen Organisationen geleistete Freiwilligenarbeit einem Arbeitsvolumen von rund 425.000 Vollzeiterwerbstätigen, so der Österreichische Freiwilligenbericht.[3] Bettina Haidinger und Käthe Knittler rechnen in ihrer Einführung zur „Feministischen Ökonomie“ vor: Würde man unbezahlte Arbeit mit einem durchschnittlichen Frauenlohn belegen, würde dies für Österreich mehr als ein Drittel des BIP ausmachen.[4]

Bewusst wurde uns auch, wie abhängig wir von Arbeitsmigrant*innen sind – von der 24-Stundenbetreuung älterer Menschen bis hin zur Ernte des Spargels. Tätigkeiten, die derart schlecht entlohnt sind, dass sie von Österreicher*innen gar nicht mehr gemacht werden. Auch das kann und muss geändert werden.

Die Fragilität der globalen Produktions- und Güterketten wurde offensichtlich. Kostensparen durch das „Just in time“-Prinzip wird wohl wieder stärker durch Lagerhaltung abgelöst werden. Sinnvoll wäre auch eine Regionalisierung der Produktion.

Dankbar haben wir gesehen, dass bei uns die Versorgungsstrukturen funktionieren. Selbst die Tageszeitung wurde täglich pünktlich geliefert. Den größten Schub verzeichneten in diesem Bereich sicherlich das Internet und die zahlreichen Apps für die digitale Kommunikation.

Neben den materiellen Infrastrukturen – zu denen letztlich auch die digitalen Informations- und Kommunikationswerkzeuge gehören (sie erfordern physische Geräte und Server, die einen hohen Energieverbrauch haben) – wird eine Gesellschaft auch durch mentale Infrastrukturen zusammengehalten.[5]
Dazu zählen Überzeugungen, Denkweisen, Normen, Paradigmen – etwa über das Funktionieren freier Märkte, Erzählungen – etwa was ein gutes Leben ausmacht, Identitätskonstruktionen – etwa was das Menschsein ausmacht – oder eine Nation.

Weder das Virus noch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen, um deren Ausbreitung einzubremsen, sind zu verharmlosen. Arbeitslos zu werden, als Kleinunternehmen die Fixkosten nicht mehr berappen zu können, weil die Umsätze einbrechen, oder als kleine/r Selbstständige/r mit den Aufträgen bzw. Auftritten auch die Einnahmen zu verlieren, ist alles andere als angenehm. So wie jemand, der selbst an COVID19 erkrankte oder Angehörige in der Intensivstation hatte, der Verharmlosung der Pandemie nichts abgewinnen kann.

Dennoch haben wir jetzt in der Zeit der Quarantäne eine Erfahrung gemacht, die Warnungen vor dem „erschöpften Selbst“ (Ehrenberg), der „erschöpften Gesellschaft“ (Grunwald) oder dem modernen Beschleunigungsdiktat (Rosa) schon lange nahelegen: die Notwendigkeit von Pausen, Phasen des Nichtstuns, der Muße, der Abkehr von der Multioptions- und Multitasking-Gesellschaft. Das führt mich zur zweiten Frage:

 

[2] Kann die aktuelle Krise den Klimaschutz, die Klimapolitik voranbringen?

Die Frage ist natürlich nicht seriös zu beantworten, wir können aber fragen, was wir dazu beitragen können, dass nicht einfach der „Reset“-Knopf gedrückt wird.

Bilder von leeren Autobahnen, von klaren Himmeln ohne Kondensstreifen, von Delphinen, die in die Kanäle von Venedig zurückgekehrt sind, weil die Kreuzfahrtschiffe nicht mehr das Wasser verpesten, zeigen, dass Veränderungen im Sinne der Ökologie möglich sind. Und es gibt zahlreiche Warnungen, etwa der Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb oder ihres deutschen Kollegen Stephan Rahmstorf, dass die Klimaerwärmung viel dramatischer werden wird als die aktuelle Pandemie. Aktuelle Schlagzeilen erinnern uns daran: „Deutschland steuert auf die nächste Dürre zu“ (Spiegel, 21.April) oder „Kaum Regen. Extreme Trockenheit in Europa“ (ORF, 24. April)“.

Ich denke, es gibt dennoch Unterschiede zwischen beiden Krisen. Das Coronavirus haben wir als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen – die täglich gestiegenen Todesopfer machten es deutlich (auch wenn wir erst später sehen werden, ob die Mortalitätsraten tatsächlich angestiegen sind, oder ob ältere Menschen auch ohne Virus in der nächsten Zeit gestorben wären, worauf der Philosoph Norbert Burger hinweist.[6]

Die Klimakrise wird nach wie vor als schleichende Krise wahrgenommen, auch wenn dies fahrlässig ist. Menschen haben mehr Angst um ihr eigenes Leben als um das Überleben der Menschheit, spitzt es Richard-David Precht zu.[7] Auch wenn die Fakten mittlerweile anderes belegen: schon vor vielen Jahren hat der britische Stern-Bericht dargelegt, dass Nichthandeln wirtschaftlich deutlich kostspieliger wird als Klimaschutz. Hans-Joachim Schellnhuber spricht von einem „planetaren Notfall“ sowie einem notwendigen „Klima-Corona-Vertrag“[8], den die Jüngeren und die Älteren eingehen müssen.

Dies bestätigt auch das Österreichische Umweltbundesamt. „Die immer extremeren Ausmaße des Klimawandels schlagen sich in wachsenden Schadenskosten nieder: Bereits jetzt kommt das Umweltbundesamt für Österreich auf eine Milliarde Euro pro Jahr. Bis 2050 könnten es 5 bis 8,8 Mrd. Euro im Jahr werden. In den Bilanzen vieler Unternehmen und vor allem von kreditgebenden Banken sind die Klimarisiken noch nicht wirklich angekommen.“[9]

Welche Chancen bietet die Corona-Krise, nach ihrer Eindämmung doch einen neuen Weg zu gehen?

  1. Wir haben gesehen, Veränderungen, auch drastische Einschränkungen, sind möglich, der politische Wille vorausgesetzt. Das energische Handeln bei der Corona-Krise wird zu Recht nun auch in Bezug auf die Klimakrise gefordert. Ein von Wolfgang Pekny, Fritz Hinterberger u.a. initiierter, an die österreichische Bundesregierung gerichteter „Lebenspakt“ enthält konkrete Vorschläge dazu.[10]
  2. Das Mobilitätsverhalten lässt sich dauerhaft verändern, dies zeigt etwa der VCÖ. Der Digitalisierungsschub macht deutlich, dass viele Sitzungen, Besprechungen, Meetings online stattfinden können und vielleicht sogar effektiver sind. Auch Homeoffice mit all seinen Ambivalenzen wird an Bedeutung gewinnen. Die Erfahrung weitgehend autofreier bzw. zumindest stark autoreduzierter Städte sollen wir in die Zeit nach den Ausgangsbeschränkungen mitnehmen.[11]
  3. Längerfristige Einbußen wird der internationale Flugverkehr verzeichnen, weil sich nach einer Pandemie einfach das Reiseverhalten verändert. Mit allen seinen Konsequenzen für den internationalen Tourismus, der mittlerweile 10 Prozent der Weltwirtschaftsleistung ausmacht. Die Flugbranche nicht zur Gänze zu „retten“, macht im Kontext des Klimaschutzes Sinn. So wird diskutiert, Kurzstreckenflüge zu verbieten und durch schnelle Zugverbindungen zu ersetzen, wenn der Staat bei Fluggesellschaften einsteigt. Eine drastische Verteuerung des Flugbenzins bleibt trotz der neuen Krisen in der Branche aktuell. Und nicht vergessen: Strukturwandel bedeutet immer, dass Branchen wachsen oder schrumpfen. Daher sind Konversionsprojekte, die im Zusammenhang mit Rüstung noch immer aktuell sind, auch für die Öko-Wende relevant. Auch wenn dies nicht reichen wird. Dazu unten mehr.
  4. Laut Prognosen wird die Fossilbranche in große Turbulenzen stürzen, Konkurse sind vorprogrammiert bei einem Preis von 10 Dollar pro Barrel Öl. In den USA wurde im April Erdöl zum Minuspreis angeboten, um den Ansatz nicht zur Gänze einbrechen zu lassen. Dies ist die Chance, die notwendige Strukturbereinigung im Zuge der Dekarbonisierung unserer Wirtschaften und der Neuausrichtung der Investitionen voranzubringen. Sozusagen als Vorübung auf das, was kommen muss.
  5. Ich halte Vorschläge wie einen Europäischen Transformationsfond, den der Ökonom Stephan Schulmeister unterbreitet hat, für sinnvoll. Die Idee ist einfach: Finanziert über die Europäische Zentralbank soll der ökologische Strukturwandel vorangetrieben werden: Investitionen in transeuropäische Nachtzüge als Ersatz für die zu streichenden Kurzflüge, thermische Sanierung aller Gebäude, Ökologisierung unserer Städte. Damit sollen zwei Dinge gleichzeitig erreicht werden: die Ankurbelung der Wirtschaft nach der Coronakrise und die Öko-Wende, also grüner Keneysianismus.[12]
  6. Reichen wird das aber m. E. nicht. Notwendig bleibt der Übergang in Postwachstumswirtschaften und Postwachstumsgesellschaften. Also Gesellschaften, die ihre öffentlichen Infrastrukturen sowie die Einkommen aller ihrer Mitglieder auf einem akzeptablen Niveau erhalten können, ohne dass das BIP ständig wächst, ja, auch wenn dieses schrumpft.
  7. In der mittlerweile an Breite gewinnenden Postwachstumsbewegung gibt es unterschiedliche Ansätze:
  • den reform- bzw. institutionenorientierten Ansatz (Anpassung der Arbeitsmärkte, Gesundheits- und Wohlfahrtssysteme
  • den suffizienzorientierten Ansatz (Konsumreduktion, einfacher Lebensstil)
  • den alternativökonomischen Ansatz (Anderes Wirtschaften in Nischen: Commons, Sharing, Coworking, Urban Gardening, Solidarische Landwirtschaft uä)
  • den feministischen Ansatz (Betonung der Care-Ökonomie)
  • den postkapitalistischen Ansatz (Ökosozialismus, Wirtschaftsdemokratie, Betriebe in Arbeiterhand) [13]
  1. Es lassen sich aber bei unterschiedlicher Akzentuierung einige Gemeinsamkeiten feststellen:
  • Neuverteilung von Erwerbarbeit, neue Arbeitszeitmodelle
  • Progressive Besteuerung der Vermögen (Gabriel Zucmann und Emanuel Saez schlagen in ihrem exzellenten Buch „Der Triumph der Ungerechtigkeit“ 60 Prozent für das reichste Prozent der Bevölkerung vor).[14] Höhere Vermögenssteuern werden gefordert, um die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren, der Verschuldungsspirale entgegenzuwirken, aber auch, um neue Turbulenzen an den Finanzmärkten aufgrund der Corona-Krise zu verhindern (eine Schuldenbremse erfordert auch eine Vermögensbremse).
  • Manche schlagen auch Schuldenschnitte für ärmere Staaten und Haushalte vor (was einer Vermögensvernichtung entspricht)
  • Tatsächliche leistungsorientierte Einkommen. Über das Verhältnis von Mindest- und Maximaleinkommen kann demokratisch entschieden werden: 1:20, 1:10, 1:4? Aber nicht 1:100 und mehr wie jetzt!
  • Transnationale Besteuerung multinationaler Konzerne und Austrocknung von Steueroasen (wie das geht, ist bei Zucman und Saez nachzulesen; Dänemark und Polen haben entschieden, in Steueroasen veranlagende Firmen keine Corona-Hilfen zu geben; ein erster, aber viel zu zaghafter Schritt).
  • Drastische Schrumpfung der Finanzmärkte: Mit Geld soll nicht spekuliert und Geld verdient werden. Die Schritte reichen vom Verbot von Leerverkäufen über Finanztransaktionssteuern bis hin zu Vollgeldlösungen und der Abschaffung von Aktionengesellschaften; aber vielleicht reicht auch schon die Begrenzung der Dividenden.[15]
  • Vorgeschlagen werden auch Grundeinkommen, Werbeverbote und die Beschränkung des Luxuskonsums. Dazu zählen nicht nur Dinge wie Yachten, sondern auch Kreuzschifffahrten, Fernreisen, überdimensionierte Autos oder Residenzen (Richard David Precht schlägt etwa das Verbot von Kreuzschifffahrten als eine Maßnahme nach Corona vor, um der Verschmutzung der Meere Einhalt zu gebieten).

Dies führt mich zur dritten Frage.

 

[3] Was bedeutet das gute Leben für alle und welche Transformationspfade dahin gibt es?

Was das gute Leben ausmacht, wollen wir zunächst einmal niemanden vorschreiben. Auch wenn es eindeutige Studien der Glücks– und Zufriedenheitsforschung gibt, die besagen, dass neben einer gesicherten Existenz Dinge wie Familie, Freunde, Beziehungen, Gesundheit, Vertrauen am wichtigsten sind. Und dass ab einem bestimmten Einkommensniveau die Zufriedenheit nicht mehr steigt. Das wurde sogar in den Wirtschaftswissenschaften untersucht, ist bekannt durch das Easterlin-Paradoxon bzw. den abnehmenden Grenznutzen von Gütern (ich kann nur ein Haus bewohnen oder gleichzeitig nur einen Ferrari fahren; dem Anhäufen liegen andere Motive zugrunde).[16] Es gibt auch Definitionen für „gute Arbeit“: ausreichende Entlohnung, sinnstiftende Tätigkeit, die weder über- noch unterfordert.

Das „gute Leben für alle“ geht einen wesentlichen Schritt weiter. Gefragt wird, welche Lebens- und Konsumstile sind für 7 oder 8 Mrd. Menschen ökologisch vertretbar. „Von nichts zu viel – für alle genug“ nenne ich das in meinem gleichnamigen Buch.[17] Man geht hier von einem starken Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsprinzip aus. Mit Begriffen wie „Externa­lisierungs­gesellschaft“ (Stephan Lessenich) oder „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand, Markus Wissen) wird verdeutlicht, dass wir davon weit entfernt sind.[18]

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Dekonstruktion des Freiheitsbegriffs des Neoliberalismus und mancher Strömungen des Liberalismus allgemein, die Einschränkungen der persönlichen Freiheit generell ablehnen. Ein Ansinnen, dass es in keiner Gesellschaft je gegeben hat. Zusammenleben erfordert immer Regeln. Neu ist die Anwendung eines erweiterten Freiheitsbegriffs (meine Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer beschränkt) auf ökologische und globalethische Fragen.

Niko Paech bezieht diesen erweiterten Freiheitsbegriff auf Überlebensfähigkeit bezieht: „Wer die Freiheit bewahren will, darf sie nicht missbrauchen oder überstrapazieren, sondern muss sie vorsorglich und freiwillig begrenzen“. Das erfordere auch ein neues gesellschaftliches Auftreten: Im Sinne einer Selbstermächtigung müsse „die Missbilligung lebensfeindlicher Handlungen und Prozesse angemessen zum Ausdruck“ gebracht und für diese „maximaler sozialer Rechtfertigungsdruck“ aufgebaut werden. Und die dabei angelegten ökologischen Maßstäbe seien durch eine „entsprechende Lebensführung auf sich selbst praktisch anzuwenden“.[19]

Eng damit hängt der Umgang mit Verzicht zusammen. Es macht Sinn, dem Argument, dass niemand auf etwas verzichten mag, mit der Gegenfrage zu antworten: Worauf verzichten wir jetzt? Auf menschenfreundliche Städte, auf Arbeitszeitmodelle, die Beruf und Familie gut vereinen lassen, auf Lebensmittel guter Qualität, auf mehr Muße. Maja Göpels dreht in ihrem lesenswerten Buch „Unsere Welt neu denken“ die Frage nach dem Verzicht jedoch nochmals um: „Ich kann nur auf etwas verzichten, das mir nach Lage der Dinge zusteht. Der Wohlstand, in dem die westliche Welt lebt und an dem sich viele Entwicklungsländer orientieren, hätte nach den Regeln der Nachhaltigkeit aber gar nicht erst entstehen dürfen.“[20]

Ich komme zum Schluss und zur Frage, wie die Transformation gelingen kann. Es gibt keinen Königsweg, sondern viele Wege. Und dennoch brauchen wir die Reflexion über Strategien.

Niko Paech fällt ein hartes Urteil über die bisherigen Nachhaltigkeitsbemühungen. Er hält alle bisherigen Bemühungen für nachhaltige Entwicklung für gescheitert, die weiter steigenden Verbrauchszahlen wie die sich dramatisch verschlechternden Umweltindikatoren würden dies eindeutig belegen. Mehr Effizienz und Konsistenz können ihren Beitrag leisten, aber würden niemals reichen unseren „Ökovandalismus“ zu überwinden, so der Postwachstumsökonom.

Vielmehr böten die Versprechungen auf Green Growth einen Freibrief dafür, unseren Konsumstil und das Wachstumsdenken nicht hinterfragen zu müssen. Das „Weltrettungsbemühen“ stelle sich immer mehr als „Fanal an symbolischen Ersatzhandlungen“ heraus: „Immer stand es unter der Bedingung, keine der sich seit Jahrzehnten steigernden Konsum- und Mobilitätsfreiheiten, die unreflektiert zum Maßstab des Normalen erhoben wurden, aufgeben zu müssen.“[21]

Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion würden Gefahr laufen, wirkungslos zu bleiben, „denn an Betroffenheitsbekundungen bestand nie Mangel – im Gegenteil: Sie sind längst zu einer Ersatzhandlung gediehen und stabilisieren damit den Status Quo“ (S. 198). Was hingegen fehle, sei der „Aufstand der konkret Handelnden und sich Verweigernden, die mit offen praktizierter Selbstbegrenzung die Gesellschaft herausfordern“ (ebd.) Das suffiziente Anderssein lasse sich durchaus humorvoll und einladend vorleben. Das reiche aber nicht mehr, so Paech weiter: „Die konsequente Delegitimierung selbstzerstörerischer Mehrheitstendenzen durch fantasiereiche Aktionen der Verweigerung oder direkte Konfrontation wird zukünftig zum Repertoire von Suffizienzpionieren gehören müssen“ (S. 203).

Paech spricht damit – so wie Maja Göpel – die Ernsthaftigkeit an, mit der wir uns den Herausforderungen stellen müssten. Er geht davon aus, dass die Politik nur Veränderungen umsetze, wenn dafür die Basis und Bereitschaft in der Bevölkerung gegeben sei, dafür bedürfe es eines „hinreichenden Grades an vorheriger Selbsttransformation“ (S. 206). Für den Veränderungsprozess beruft sich Paech auf die Theorie „sozialer Diffusionsprozesse“. Demnach ebnen Pioniere den Weg für die Kohorte mit der nächsthöheren Übernahmeschwelle, den „early adopters“. Erst danach könne diese soziale Dynamik im besten Fall zur „kritischen Masse“ und zum Selbstläufer werden. Eine besondere Rolle dabei spielen „opion leaders“ (S. 207ff.).

Schlüssig verweist Paech auf die Gefahr der Entlastungsfunktion von „nachhaltigem Konsum“ – er zieht hier Parallelen zum Ablasshandel des Mittelalters. Nachvollziehbar ist auch, dass der Ressourcenverbrauch und die Umweltemissionen am wirksamsten durch die Haltung der Suffizienz reduziert werden. Zu bedenken bleibt aber, ob es nicht doch auch den Protest gegen eine nichtnachhaltige Politik und nichtnachhaltige Unternehmenspraktiken braucht – und ob nicht gerade jene, die diesen Widerstand leisten, häufig auch die Pionier*innen eines einfachen Lebensstils sind; hier also durchaus Wechselwirkungen vorliegen.

Wir brauchen beides: Einfach besser leben und dies anderen vormachen sowie Strukturen der Nicht-Nachhaltigkeit in der Politik, in Unternehmen aufzeigen, öffentlich kritisieren. 1983 hat Robert Jungk sein Buch „Menschenbeben. Der Ausstand gegen das Unerträgliche“ veröffentlicht – eine Hommage an die Proteste der Hunderttausenden gegen den Irrsinn des atomaren Wettrüstens. Dieser Aufstand ist heute nötiger denn je. 12 Mrd. Euro will die deutsche Verteidigungsministerin für neue Kampfjets ausgeben.

Wie könnte die Transformation praktisch gelingen? Zum Schluss drei Beispiele.

In Baden-Württemberg zahlt das Land seinen freien Kulturschaffenden (von denen viele durch die perspektivisch andauernde Absage von Publikumsveranstaltungen besonders lange ohne Einnahmen bleiben) jetzt aus Landesmitteln ein monatliches Grundeinkommen von 1180 Euro – und natürlich auch den anderen freien Berufen, denen gerade alle Honorare weggebrochen sind.[22]

Die Forderung nach einem Grundeinkommen hat in der Krise an Bedeutung gewonnen – mit den vielen Pro und Contras.

Ein bedenkenswerter Vorschlag kommt von der französichen Décroissance-Bewegung. Diskutiert wird ein „Grundauskommen“ (Dotation inconditonelle d´Autonomie). Als Alternative oder Ergänzung zum in Geld ausbezahlten Grundeinkommen soll es allen Menschen Zugang zu einer gewissen, demokratisch festzusetzenden Menge an Grundgütern als soziales Recht gewähren. Dazu gehört das Recht auf Wohnraum und Zugang zu Land (natürlich begrenzt pro Person), das Recht auf Würde (Mindestmaß an lokal produzierten Lebensmitteln und Grundbedürfnisse wie Kleidung, Möbel, Fahrräder), Zugangsrechte zu Wasser, Energie, Öffentlichen Verkehr, Gesundheits-, Bildungs-, Kultur- und Kinderbetreuungsangebote. Notwendig wären eine Wiederaneignung und Demokratisierung der der kollektiven Infrastrukturen sowie die Festlegung eines Maximaleinkommens (gefordert wird maximal das Vierfache des Grundeinkommens, alles darüber würde wegbesteuert). Das Ganze ist nicht ganz neu: der Zugang zu Schulen, Großteils auch der Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen ist bei uns bereits jetzt kostenfrei, in Luxemburg oder Tallinn gibt es mittlerweile auch den Nulltarif bei ÖV.[23]

Die emanzipatorische Kritik am Grundeinkommen setzt insbesondere an der Bedeutung der Erwerbsarbeit nicht nur wegen des Einkommens, sondern auch aufgrund der integrierenden und identitätsstiftenden Funktion von Erwerbsarbeit. Gewarnt wird vor einer Spaltung der Gesellschaft (etwa durch den Armutsforscher Christoph Butterwege). Die aktuelle Krise, aber auch die Notwendigkeit des Ausstiegs aus dem Wachstumszwang zeigen, dass wir neue Wege der sozialen Sicherung brauchen werden. Eine Aufwertung der Basisbedürfnisse gegenüber all dem, was darüber hinaus noch erstrebenswert sein mag, und deren Gewährleistung für alle würde dem Gedanken der Suffizienz sowie der Abkehr vom Konsumismus entsprechen. Und die Vielfalt an zivilgesellschaftlichen Initiativen und Alternativprojekte würde viel besser gedeihen können. Einen Versuch wäre es wert.

Das zweite Beispiel: Cleveland in der USA war früher eine boomende Industriestadt. Als viele der ansässigen Firmen in Billiglohn-Länder wechselten, brach die Wirtschaft und das soziale Gefüge der Stadt zusammen. Es kam zu Massenarbeitslosigkeit und Armut. Vor zwölf Jahren wurden die ersten Genossenschaften in einer der ärmsten Gegenden der Stadt gegründet. Sie setzen auf Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeiter und nachhaltiges Wirtschaften. Gemeinsam mit der Stadtregierung entwickelten die Genossenschaften einen regionalen Wirtschaftsplan und schafften den wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser Erfolg wurde bekannt als das „Cleveland Modell“ und wurde zum Vorbild für Städte auf der ganzen Welt.[24]

Das Beispiel zeigt, dass Private-Public-Partnership funktionieren kann, dass wir aber auch Civil-Public-Partnership brauchen werden, um Veränderungen anzustoßen.

Eine stärkere Regionalorientierung des Wirtschaftens machte bereits vor Corona Sinn, nun könnte es an Bedeutung gewinnen. Eine Ökonomie der Nähe, eine Ökonomie der Verbundenheit würde vielmehr herausstreichen, dass Wirtschaften etwas Soziales ist – nicht nur das Rechnen in abstrakten Zahlen. Vielleicht wird einmal eine Welt vorstellbar, in der zwar Wissen und Knowhow global geteilt, aber wieder viel stärker vor Ort produziert wird – unter zu Hilfenahme von High Tech und der Rückführung von Rohstoffen in Wirtschaftskreisläufe. Das wäre nicht die Abschaffung von Marktwirtschaften, Gegenteil, wir hätten wieder mehr davon, aber wohl der Abschied vom Kapitalismus. Finanztrader müssten sich um neue Jobs umsehen.

Neben den Ziele n sind die Wege dorthin wichtig. Die Transformationsforschung untersucht Gelingensfaktoren und Barrieren des Wandels. In einem soeben erschienenen Arbeitspapier der JBZ „Wann lernen Gesellschaften?“[25]  konnte ich dieser Frage nachgehen. Das würde nun einen eigenen Vortrag erfordern.

Und wir brauchen den Mut, radikaler zu denken. Es ist mehr möglich, als wir uns manches Mal vorzustellen wagen. Nicht TINA (There ist non Alternative), sondern TEPAS (There are plenty of alternative) muss offene Gesellschaften auszeichnen.

 Mag. Hans Holzinger ist Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Zuletzt erschien sein Buch „Von nichts zu viel – für alle genug“. Seine Blogbeiträge zur Corona-Krise sind zu finden unter www.hans-holzinger.org sowie unter www.jungk-bibliothek.org. Rückmeldungen: hans.holzinger@jungk-bibliothek.org

 Anmerkungen

[1] https://christian-felber.at/2020/03/20/neuer-vlog-von-corona-zum-gemeinwohl/

[2] https://wienerin.at/statistik-es-sind-frauen-die-unsere-gesellschaft-der-krise-aufrecht-erhalten-und-auch-sonst

[3] https://www.staedtebund.gv.at/fileadmin/USERDATA/aktuelles/dokumente/freiwilligenjahr_freiwilligenbericht_zusammenfassung.pdf

[4] Haidinger, Bettina; Knittler, Käthe: Feministische Ökonomie: Intro. Eine Einführung. Wien: Mandelbaum Verl., 2014

[5] Welzer, Harald (2001): Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.

[6] https://www.sn.at/panorama/international/philosoph-burger-die-beschraenkungen-sind-nicht-mehr-als-eine-belaestigung-86501113, leider nur kostenpflichtig zugänglich.

[7] https://www.focus.de/gesundheit/news/richard-david-precht-ueber-corona-panik-menschen-haben-mehr-angst-um-ihr-leben-als-um-das-ueberleben-der-menschheit_id_11762474.html

[8] https://www.klimareporter.de/gesellschaft/wir-brauchen-einen-klima-corona-vertrag

[9] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/klima/2045334-Klimakrise-kostet-in-Oesterreich-bis-2050-bis-zu-88-Mrd-Euro-im-Jahr.html

[10] http://www.clubofrome.at/  bzw. https://jungk-bibliothek.org/2020/04/22/22051/

[11] https://www.vcoe.at/ergebnisse-corona-befragung

[12] https://jungk-bibliothek.org/2020/04/12/und-was-kommt-danach-5-neue-prosperitaet/

[13] Einen exzellenten Überblickgibt der Einführungsband. Schmelzer/Matthias; Vetter, Andrea: Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg: Junius, 2019.

[14] Saez, Emmanuel; Zucman, Gabriel: Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2020

[15] Christian Felber hat dazu Vorschläge unterbreitet: https://christian-felber.at/2020/03/20/neuer-vlog-von-corona-zum-gemeinwohl/. Die NGO Attac widmet sich seit langem der Bändigung der Finanzmärkte: http://www.attac.at. Wertvolles erfährt man auch von der NGO Finanzwende: www.finanzwende.de.

[16] Das Easterlin-Paradox ist eine Hypothese über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück. Es wurde 1974 durch den Ökonomen Richard Easterlin in einem Aufsatz mit dem Titel Does Economic Growth Improve the Human Lot? veröffentlicht. Richard Easterlin wies nach, dass die Erhöhung des Bruttoinlandprodukts zwar positiv mit einem subjektiven Glücksgefühls korreliert ist, aber ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr zwangsläufig mit einer Verbesserung des subjektiven Glücksgefühls einhergeht. Auch stellte er anhand einer intertemporalen Studie fest, dass US-Amerikaner im untersuchten Zeitraum trotz Einkommenszuwächsen nicht glücklicher geworden seien. Easterlin führte als mögliche Erklärung an, dass relatives Einkommen ein besserer Prädiktor von subjektiver Zufriedenheit sei als absolutes Einkommen. Er wiederholte seine Studie in den folgenden Jahrzehnten mehrmals und kam jeweils zum selben Ergebnis (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Easterlin-Paradox)

[17] Holzinger, Hans (2016): Von nichts zu viel – für alle genug. Perspektiven eines neuen Wohlstands. München.

[18] Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München; Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. München.

[19] Folkers, Manfred; Paech, Niko: All you need ist less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. München: oekom, 2020, S. 124f

[20] Göpel, Maja: Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein, 2020, S. 127

[21] Paech a.a.O., s. 15

[22] https://www.sueddeutsche.de/kultur/kultur-hilfe-staat-corona-1.4877577?fbclid=IwAR1lF9yQLAljK_T6-5rb3P-c2vx3CbBTkE-_2VMkRuNsp2rOgTfx9Ct74yc

[23] Vgl. Schmelzer/Vetter a.a.O. S. 204

[24] https://kontrast.at/cleveland-modell-usa-genossenschaften/

[25] Holzinger, Hans (2020): Wann lernen Gesellschaften? Gelingensfaktoren und Barrieren für gesellschaftlichen Wandel im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Salzburg.