Das Jahr 2020 wird als Jahr der Pandemie in die Geschichte unserer Wohlstandsgesellschaften eingehen. Es sollte aber angesichts der hingenommenen Zustände in den Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen auch als Jahr der Schande für das reiche Europa in Erinnerung bleiben. Ein winzig kleines Virus lehrte uns, dass wir nicht über der Natur stehen und nicht alles unter Kontrolle haben. Das über Berichte von Hilfsorganisationen und Medienbilder vermittelte Leid der aus Kriegswirren und Not geflüchteten Frauen, Männern und Kindern in den griechischen Flüchtlingslagern zeigte uns zugespitzt – es kam ja Weihnachten, das Fest der Liebe – die Verdrängungsleistung, die wir angesichts des Auseinanderklaffens von Arm und Reich in der Welt seit vielen Jahrzehnten vollbringen.

Heribert Prantl spricht in der Süddeutschen Zeitung von einem Lockdown der Menschlichkeit: „Es könnte Hilfe geben, aber es soll sie nicht geben, weil Europa das nicht will. Die Lager sollen Orte der Abschreckung bleiben. Die EU nennt sich Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit. Freiheit? In den Flüchtlingslagern sind Unrecht und Unsicherheit so groß, dass man von einer schandbaren europäischen Frechheit reden muss. Es gibt in der Flüchtlingspolitik einen Lockdown der Menschlichkeit.“ Und von einer „Hornhaut der Seele: „Corona hat die Aufmerksamkeit von den Flüchtlingen wegkonzentriert. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind ein Hohn auf die EU-Grundrechte-Charta und die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Flüchtlinge werden dem Dreck, dem Coronavirus, den Ratten und dem offenen Meer überlassen. Die EU-Staaten haben alle Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer eingestellt. Die Türkei und Griechenland spielen Wasser-Ping-Pong mit den Flüchtlingsbooten; Frontex, die europäische Grenz- und Küstenwache, schaut dabei zu oder spielt mit. Bundesinnenminister Horst Seehofer schreibt Briefe, um die private Seenotrettung – die unter anderem von der Evangelischen Kirche finanziert wird – zu torpedieren. Corona hat offenbar auch eine Hornhaut über die christsoziale Seele wachsen lassen.“

Ja, es gab auch in Österreich namhafte Stimmen, die sich für eine Aufnahme von Geflüchteten einsetzten – der Bundespräsident, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, humanitäre Organisationen. Doch die zynische Haltung jener, die vor einem Dammbruch warnten, würden wir die Grenzen für die Notleidenden öffnen, behielten die Oberhand. Dabei hätte die Demokratie gerade in dieser Frage ihre Stärke zeigen können. Das Abstimmungsverhalten im Parlament wird weder von einem Regierungsübereinkommen noch von einem Klubzwang festgeschrieben – die Abgeordneten entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Wie schön wäre es gewesen, wenn jene in der der österreichischen Volkspartei, die den Kurs ihres Kanzlers nicht gutgeheißen haben, für den Aufnahmeantrag gestimmt hätten. Wie notwendig wäre es gewesen, wenn die grünen Abgeordneten ihrem Gewissen, nicht dem Koalitionskalkül gefolgt wären.

Es ist noch nicht zu spät. In vielen Ländern gibt es Initiativen für die Rückkehr der Menschlichkeit. Auch in Salzburg, etwa der Aufruf „Salzburg hat Platz“. Zwei engagierte BürgerInnen haben eine Petition an Landeshauptmann Dr. Wilfried Haslauer und die Landesregierung erstellt mit der Bitte, er möge sich bei der Bundesregierung für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen.

Die Aufnahme von Flüchtlingsfamilien allein durch Österreich hätte das Problem natürlich nicht gelöst – die Evakuierung aller Flüchtlinge von Lesbos wäre Aufgabe der Staatengemeinschaft –, wir hätten aber ein Zeichen setzen können. Generell liegt das Problem freilich tiefer. Tagtäglich halten wir aus, dass Unsummen für Militär und Rüstung ausgegeben werden, dass die einen immer mehr Reichtümer anhäufen, während andere verhungern oder an durchaus heilbaren Krankheiten sterben, nur weil die nötigen Nahrungsmittel bzw. Medikamente fehlen. Viele haben sich in den Sozialen Medien für die Evakuierung der Lager ausgesprochen, mehrere Hunderte haben sich in zahlreichen Städten auch an Lichterketten beteiligt. Um uns nicht länger mitschuldig zu machen, müssen wir jedoch lauter die Stimme der Menschlichkeit erheben, die Verantwortung der Politik einfordern und zugleich einen Weg der radikalen Einfachheit einschlagen, die ein kollektives Teilen ermöglichen würde. Nur so können wir uns aus den globalen Verstrickungen in das Unrechtssystem lösen.

Corona wäre hierfür noch immer eine große Lernchance:  Konzentration auf die Grundbedürfnisse, auf das, was wir wirklich brauchen, ein gutes Auskommen für alle, dafür die geplante Schrumpfung des Rests – das wäre kein ärmeres, sondern ein erfüllteres Leben, das uns von der täglichen Verdrängung des geduldeten Unrechts als Mittuende befreien würde. Und wir würden dabei auch im eigenen Interesse handeln. Denn 2020 ist auch der Beginn jenes Jahrzehnts, in dem sich entscheiden wird, ob die Einbremsung des Klimawandels auf ein noch verträgliches Maß gelingt oder nicht. Für diesen Wandel, der neue Technologien keineswegs ausschließt, brauchen wir nicht nur mehr zivilgesellschaftliches Engagement, sondern auch mehr Moral in unserem Wirtschaften. Wie eine solche Ökonomie der Verbundenheit aussehen könnte, versuche ich in dem vor kurzem erschienenen Buch „Post-Corona-Gesellschaft“ zu skizzieren.

In diesem Sinne wünsche ich uns mehr Radikalität und Tiefe für das neue Jahr!

Hans Holzinger