Putins Aggressionskrieg bringt unermessliches Leid und Zerstörung über die Menschen in der Ukraine. Mit Fortdauer des Krieges steigt aber auch die Zahl der toten und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten. Ohnmächtig verfolgen wir tagtäglich die Bilder des Grauens und der Verwüstung. Noch hält die Solidarität mit den Geflüchteten. Wir spenden für humanitäre Organisationen, empören uns über Putin, seine Gefolgsleute und die Brutalität seiner Armee. Und wähnen uns auf der Seite der Guten. Doch darüber hinaus? Das EU-Parlament hat mit über 90 Prozent der Stimmen, darunter der österreichische Abgeordnete und Vizepräsident Otmar Karas, ein Paket beschlossen, dass auch ein umfassendes Energieembargo enthält. Sanktionen dürften nicht uns treffen, sondern müssten auf die Aggressoren zielen, heißt es aber von Seiten vornehmlich österreichischer und deutscher Politiker und Politikerinnen, jenen Ländern mit der größten Gasabhängigkeit von Russland. Und Karas wurde auch gleich heftig kritisiert für seine Position.

Täglich geht durch das weitere Fließen von Öl, Gas und Kohle eine Milliarde Dollar an Putins Kriegskasse. So finanzieren wir den Krieg mit, damit unsere Gebäude weiter geheizt und unsere Industrie weiter produzieren kann, die Wirtschaft weiter brummt. Natürlich geht es um Arbeitsplätze und an der Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl wird ohnedies gearbeitet. Aber der Krieg findet jetzt statt. Die Menschen sterben jetzt. Es wäre ein Zeichen der Solidarität, das über Beteuerungen des Entsetzens und der Empörung hinaus geht, wenn wir uns zu Schritten entschließen würden, die auch wir spüren. Der moralische Preis, dies nicht zu tun, ist hoch, wie der britische Historiker Timothy Ash in einem Interview mit dem ORF meinte. Im eigenen Interesse wird zum gegebenen Zeitpunkt auch Russland Unterstützung für die Energiewende brauchen – denn die Klimakrise kennt keine Grenzen.

Ein Überdenken unseres ressourcenverschlingenden Wirtschaftens ist ohnedies aus ökologischen Gründen und wegen der Abwehr der Klimakrise geboten. Die Besinnung auf unsere Grundbedürfnisse, die Sicherung der Einrichtungen des Gemeinwohls, die bessere Verteilung des Wirtschaftsprodukts, die höhere Besteuerung von großen Vermögen und Luxuskonsum, die Ausrichtung auf einen verantwortbaren Wohlstand wären Wegmarkierungen, die die Transformation einläuten könnten. Nicht alle spüren steigende Energie- und Lebensmittelpreise gleich – wer das verbreitet, unterliegt einer Täuschung. Unter die Arme gegriffen werden muss jenen, die tatsächlich am materiellen Limit leben – in unseren insgesamt reichen Gesellschaften. Das hat schon die Pandemie gezeigt. Doch die Bereitschaft zu kollektivem Teilen ist leider gering. Der Wohlstand hat uns entsolidarisiert. Die Politik fürchtet daher konsequentere Schritte. Das Hemd weiterhin billigen Gases ist uns eben näher als der Verantwortungsrock.

Noch mehr Waffen machen die Welt nicht friedlicher

Als problematisch sehe ich die reflexhafte Aufrüstungsspirale in europäischen Ländern, allem voran Deutschlands, das ein paar Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, seinen Militäretat um 100 Mrd. Euro erhöht hat. Das Militärbudget der NATO ist 14 Mal höher als jenes Russlands, auch wenn der Großteil davon von den USA gestellt wird. Noch mehr Waffen machen die Welt nicht friedlicher, so sehr sie auf Verteidigung ausgerichtet sein mögen. Beiden Weltkriegen sind Rüstungsspiralen der späteren Kriegsgegner vorausgegangen. Wir sind gut beraten, dieser Falle nun zu entgehen. Notwendig wird eine multipolare Sicherheitsarchitektur, die auf wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Kooperation basiert. Die Nationen Europas haben hier aus der Tragödie der zwei Weltkriege durchaus gelernt. Krieg dürfe nicht länger als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gesehen werden, sondern müsse grundlegend aus der Politik gestrichen werden, lautet die Maxime. Eine Rolle wird auch spielen, dass Wohlstand pazifizierend wirkt und Wohlstandsgesellschaften zugleich zu postheroischen Gesellschaften werden – unsere Leidenschaften gelten neuen Konsumprodukten und kollektiv unserer Fußball- oder Eishockeymannschaft. Und die Kriege der USA waren nach dem Vietnamkriegsdebakel allesamt Hightech-Krieg mit geringen eigenen Verlusten. Umso tiefer war der Schock über Putins Aggressionskrieg. Auch wenn dieser genug Vorboten hatte, den Einmarsch russischer Truppen in Georgien 2014 nach dem Beschluss der NATO, mit Georgien und der Ukraine (!) NATO-Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, das brutale Eingreifen in Syrien auf der Seite von Assad.

Das Gespenst der mangelnden Wehrhaftigkeit Europas soll uns jedoch nicht blenden. Eine weltweile neue Rüstungsspirale verschlingt Ressourcen, die wir anderwärtig brauchen, etwa 800 Millionen Menschen leiden aktuell Hunger. Sie konterkariert auch alle Anstrengungen zur Eindämmung der Klimakrise. Der CO2-Ausstoß der US-Armee ist bereits in Friedenszeiten größer als jener von Schweden oder Dänemark. Gewinner einer neuen Aufrüstungswelle sind die Waffenschmieden und jene, die an ihnen mitverdienen.

Waffenstillstand zu welchem Preis und für wen?

Wir alle wünschen uns einen Waffenstillstand und Verhandlungsergebnisse – am meisten die Menschen in der Ukraine, wohl aber auch die Soldaten beider Seiten und deren Angehörige. Doch wann sind die zentralen Akteure dazu bereit? Ein Einlenken Selenskis zum derzeitigen Zeitpunkt gegenüber dem Aggressor ist unwahrscheinlich – auch wenn der Truppenabzug vor Kiew ein Zeitfenster eröffnet hätte, wären nicht die Bilder von den brutalen Übergriffen auf Zivilisten und Zivilistinnen gewesen. Eine Kapitulation, wie sie etwa der Philosoph Richard David Precht angesichts der Tragödie von Mariupol ins Treffen führte, scheint unmöglich. Der Schriftsteller Franzobl erntete für seinen ähnlichen Vorschlag einen Shitstorm auf Sozialen Medien – auch wenn Empörung aus der sicheren Entfernung nichts kostet.

Der Krieg, so ist zu befürchten, kann länger dauern. Möglich ist dann ein Diktatfrieden, sollte die bedeutend größerer Armee Russlands die ukrainischen Kämpfer trotz neuer westlicher Waffen bezwingen. Möglich ist ein Ende der Kämpfe nach Ausbluten beider Seiten, gepaart mit einer gut inszenierten Vermittlung Chinas. In beiden Fällen wird das Blutvergießen weitergehen, Militärexperten befürchten, dass es sich zuspitzen wird mit all den Zerstörungen an Infrastrukturen. Am Ende könnte wohl ein eingefrorener Konflikt mit autonomen Republiken Donez und Luhansk und wahrscheinlich ein doch kapitulierendes Mariupol stehen – alles sieht danach aus. Möglich ist freilich auch, dass dem wirtschaftlichen Desaster des russischen Imperiums ein militärisches folgt. Ob das die Region dem Frieden näherbrächte, bleibt aber ebenso ungewiss.

Sanktionen und Waffen helfen nicht weiter, warnt der US-Starökonom und Osteuropa-Experte Jeffrey Sachs. Sie erhöhen zwar den Druck auf Russland, doch zugleich verlängern sie den Krieg – und bringen uns einer Friedenslösung keinen Schritt näher. Dabei könne gerade Europa an einem langen Krieg und immer härteren Sanktionen kein Interesse haben. Für die USA sei der Krieg in der Ukraine jedoch weit weg, US-Präsident Biden stelle die Welt auf einen langen Konflikt ein. „Die USA würden jahrelangen Krieg tolerieren. Sie würden viele Tote in Kauf nehmen“, warnt Sachs. Dabei würden aber nicht nur die Europäer verlieren. Den höchsten und bittersten Preis müsste die Ukraine selbst zahlen. „Die USA feuern ihre Freunde an und lassen sie dann auf dem Schlachtfeld zurück.“ Auch eine Sichtweise.

Reflexiver Pazifismus ist nötiger denn je

Im nach hinein ist man immer klüger, lautet eine viel gebrauchte Redewendung. Sie trifft auch hier zu. Ein Kind mit Problemen wird erst wahrgenommen, wenn es stört. Solange es sich ruhig verhält, nimmt es keiner wahr. Auch dieser Vergleich mag hinken. Doch erst jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die seit langem schwelenden Konflikte mit Russland. Ja, nun sind wir gezwungen dazu. Der Einmarsch in Georgien sowie die Annexion der Krim waren jedoch durchaus Vorwarnungen. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, keineswegs ein Pazifist, meinte 2014, also nach dem Sturz des Russlandtreuen ukrainischen Präsidenten durch die Maidan-Revolution: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“ Da wurden wohl einige Fehler gemacht.

Wenn du den Frieden willst, dann bereite den Frieden vor, lautet eine Maxime der Friedensbewegung und der Friedensforschung. Ein reflexiver Pazifismus wird auch in Zukunft wichtig sein, so sehr er derzeit desavouiert zu sein scheint. Ja, wir werden ihn mehr denn je brauchen. Es mag utopisch erscheinen: Eine Welt ohne Imperien, also eine Welt vieler kleiner Staaten mit kleinen Armeen, aber resilienten, die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigenden Wirtschaften, die sich ihre Energie weitgehend selbst erzeugen – Sonne und Wind gibt es (fast) überall, die zwar noch Handel treiben, aber in bedeutend geringerem Umfang, wäre nicht nur aus ökologischen Gründen geboten, sondern mit Sicherheit auch friedlicher. Das machte internationale Kooperationen und internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen sowie weitere Institutionen zur Durchsetzung humanitärer und sozialer Mindeststandards nicht obsolet – auch Konzerne brauchen international akkordierte Regeln, sondern könnte erst deren Wirksamkeit entfalten lassen. „Ich trete ein für einen offenen Menschen, eine offene Gesellschaft, eine Zukunft ohne Angst“ – dieses Plädoyer des Zukunftsforschers und Friedensaktivisten Robert Jungk gilt heute mehr denn je.

Hans Holzinger ist Nachhaltigkeitsexperte der Robert-Jungk-Bibliothek in Salzburg und Autor mehrerer Bücher zur sozialökologischen Wende. Er war in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre aktiv und sieht sich einem reflexiven Pazifismus verbunden.